Die Erkenntnis, dass der Mensch – sowie alles Lebendige, auch in der Tier- und Pflanzenwelt – eine Seele hat, gehört inzwischen zum alltäglichen Sprachgebrauch. Und dennoch scheint die Existenz einer Seele als Relikt einer vor-wissenschaftlichen Zeit.
Und obwohl die katholische Kirche gerne zeigen möchte, dass sie aller neuen Erkenntnis gegenüber aufgeschlossen ist, hält sie an dem Konzept der Seele fest.
Und das nicht etwa aus religiösen Gründen!
Die Seele ist der Grund für alles Geistige
Zunächst ist die Geistigkeit des Menschen ein Phänomen. Eine Geist-Seele ist weder messbar, noch sichtbar oder auf andere Weise direkt erfahrbar. Die Erkenntnis, dass der Mensch aber ein ganzes Bündel von Eigenschaften hat, die ihn deutlich und unleugbar von der Pflanzen- und Tierwelt abheben, ist dagegen umso offensichtlicher.
Allerdings sind diese Phänomene nicht naturwissenschaftlich fassbar, da es sich eben um geistige Wirklichkeiten handelt: Freiheit, Sprache, Selbstbewusstsein, Moralität, Gewissen und Religiösität. Der Mensch kann umhin, die Wirklichkeit zu deuten und zu interpretieren. Selbst ein Materialist deutet die Welt, und zwar als geistlos, anstatt sie, wie Tiere es tun, einfach nur hinzunehmen und sich jeder Deutung zu enthalten. Dieses »Nicht-in-der-Lage-Sein, der Welt keinen Sinn beizumessen«, ist schon ein Aspekt der Geistigkeit des Menschen.
Der Mensch ist wesensmäßig auf der Suche nach dem, was hinter den Dingen liegt; sobald der sinnsuchende Mensch nicht nur die Welt, sondern eben in dieser Welt vor allem den Mitmenschen betrachtet, wird er sich selbst als geistig, das heißt als tiefgründiger und mehrschichtiger erkennen. Der Mensch und Mitmensch ist nicht bloß Organismus und materiell, sondern mehr.
Die Freiheit, zu interpretieren
Das, was Geistigkeit ausmacht, ist also die Fähigkeit, von der bloßen Oberfläche, die wir sehen, zu abstrahieren und eine unsichtbare und größere Wirklichkeit anzunehmen. Wenn wir einen anderen Menschen anschauen, dann sehen wir zwar Haut, Haare und Kleidung, vor allem aber sehen wir einen anderen Menschen mit seinen seelischen Eigenschaften. Das setzt voraus, dass wir von den bloßen Sinneseindrücken absehen können – fast so, als wenn diese durchsichtig, transparent seien. Wir können uns also von der sinnlichen Wahrnehmung lösen: Wir haben die Freiheit, Sinn zu erkennen (im Gegensatz zu einer Katze beispielsweise, die einem Lichtpunkt hinterherjagt, ohne zu erkennen, dass das keinen Sinn hat). Nur, wer diese Freiheit hat, ist beispielsweise zur Ironie fähig – denn Ironie bedeutet, dass jemand mit einer Aussage oder Gestik genau das Gegenteil von dem meint, was er tatsächlich sagt (»Ironie ist die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten«).
Die Freiheit, sich zu verhalten
Eine solche Freiheit gibt dem Menschen die Möglichkeit, »sich wertend zu verhalten«. Zwar kann der Mensch die Wirklichkeit (auch seine eigene Wirklichkeit, also zum Beispiel sein Aussehen, sein Alter, seine Volkszugehörigkeit und sein Geschlecht) nur bedingt ändern; aber selbst, wenn er sie nicht ändern kann, ist er in der Lage, Zustimmung oder Ablehnung zu empfinden und auszudrücken.
»Ich hasse mein Leben!« (im Film «Jupiter Ascending») ist zum Beispiel ein wertendes Verhalten zu einer ansonsten wenig änderbaren Realität. Wer dagegen »Ich liebe Dich!« sagt, verhält sich auch zu einer Realität. Nur deutlich positiver.
Die Fähigkeit, sich wertend zu verhalten ist, so meine ich, die zumindest grundlegendste Übersetzung der Begriffe Freiheit und Geistigkeit. Der Mensch als geistiges Wesen kann sich zu seiner Umwelt genauso wie zu seinen erblichen Voraussetzungen positionieren; er kann sich den Einflüssen durch Umwelt und Erbgut öffnen und widersetzen und sogar auf Umwelt und Erbgut zurückwirken und in Grenzen seine Voraussetzungen ändern. Natürlich ist kein Mensch vollständig frei, sich über die Erziehung und das Erbgut hinwegzusetzen; jedem Menschen werden auch unüberwindliche Grenzen gesetzt. Aber der Mensch kann diese Grenzen akzeptieren oder dagegen rebellieren, er kann sich innerhalb der Grenzen frei verhalten und kann teilweise seine Grenzen verändern (nach außen und nach innen: Seine Freiheit kann zunehmen oder geringer werden).
Die Freiheit, gut zu sein (Moralität)
In seinem Verhalten einer Sache und noch mehr einer Person gegenüber kann sich der Mensch nun angemessen oder unangemessen verhalten. Er kann die Wirklichkeit leugnen oder akzeptieren, wie sie ist. Er kann sich wahrhaftig oder verlogen verhalten. Mit anderen Worten: Freiheit führt zur Sittlichkeit – also zur unausweichlichen Wahl zwischen gutem und schlechtem Verhalten und Handeln. Dabei liegt die eigentliche Freiheit nicht darin, diese Wahl zu haben, sondern vor allem darin, sich angemessen wertschätzend zur Wirklichkeit zu verhalten. Anderen Personen gegenüber können wir sogar von lieben sprechen – der eigentlichen Erfüllung der Freiheit.
Zu den gleichen Erkenntnissen kommen wir, wenn wir nicht von den Phänomenen, sondern von der Theologie ausgehen: Wenn Gott in uns Menschen ein zur Liebe fähiges Wesen erschaffen hat, dann müssen wir »im anderen sein können«; Selbstbewusstsein heißt nicht nur, sich selbst als ein Selbst wahrzunehmen, sondern den anderen als ebenfalls selbstbewusst zu denken; Liebe setzt Freiheit voraus – und öffnet damit auch die Möglichkeit, zu sündigen; Sprache (im Gegensatz zur Signalkommunikation der Tiere) ermöglicht Abstraktion.
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