Aufbruch in die neue Welt

Wir Christen glauben also an eine geistige Welt, voller Wirklichkeit und Realität, auch dann, wenn andere menschliche Geister diese Realität leugnen, nicht wahrhaben wollen oder ignorieren.
Aber diese Welt ist nicht einfachhin geistig – und mehr nicht. Auch die sichtbare Welt wäre nicht erschöpfend beschrieben, wenn wir sie nur als materiell bezeichnen. In unserer materiellen Welt gibt es Sichtbares und Unsichtbares, Kräfte, Energie und Stoffe; darüber hinaus Naturgesetze, Standardgrößen und Abhängigkeiten. Obwohl dies alles Gegenstand der Naturwissenschaften ist, lässt sich diese Welt in viele Bereiche sinnvoll unterteilen.
Die geistige Welt ist ebenso differenziert: So gibt es in-sich existierende Wesen (allen voran Gott, aber auch eine ganze himmlische Welt voller Engel und Heiligen) und es gibt den Mensch als Leib-Seele-Einheit. Darüberhinaus ist in der geistigen Wirklichkeit eine Ordnung zu erkennen, die im Verhältnis der Wesen zueinander erkennbar ist.

Diese Ordnung ist die Grundlage der Moral. Wer in Freundschaft mit dieser Ordnung lebt und handelt, schützt und bewahrt sein Glück; wer im Widerspruch zum erfüllten Verhältnis zu sich und den geistigen Realitäten existiert, verursacht Mangel.

Mit anderen Worten: Diese unsichtbare Welt ist ein ebenso großes wissenschaftliches Entdeckungsfeld und geistiges Abenteuer, wie unsere sichtbare Welt. Wir dürfen nicht erwarten, dass allein der Entschluss, die größere Wirklichkeit zu akzeptieren, schon alle Fragen beantwortet.

Vielleicht waren Menschen früherer Zeit etwas fitter als wir, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Einen Großteil unserer philosophischen Energie geht heutzutage dabei verloren, die Existenz dieser geistigen Wirklichkeit anzuerkennen. Gottseidank bleibt es uns aber unbenommen, früheren Geistesgrößen in ihre Erkenntnisse durch Lesen ihrer Werke zu folgen.

Das erklärt so einiges

Valerie Schönian, eine ausdrücklich nicht-religiöse Journalistin, hat ein Jahr lang einen katholischen Priester begleitet und darüber einen Blog geführt («Valerie und der Priester») und ein Buch geschrieben («Halleluja – Wie ich versuchte, die katholische Kirche zu verstehen»). In einem Blogeintrag berichtete sie, wie sie auf die kritische Frage eines (ebenfalls atheistischen) Mitstudenten, wie man nur so denken könne wie dieser Priester, antwortete: «Weißt du – der hält das alles für real.»

Wie sieht die Innenansicht des katholischen Glaubens aus, wenn wir einfach mal von der Realität der geistigen Wirklichkeit ausgehen?

Menschenwürde: Dass der Mensch eine Würde hat, liegt in seiner geistigen Eigenschaft, Ebenbild Gottes zu sein begründet. So kann ich diese Würde verletzen, auch wenn es sich rein materiell gut anfühlt (zum Beispiel beim Konsum von Pornografie), und ich kann die Würde bewahren, obwohl mir körperlicher Schaden entsteht (indem ich zum Beispiel bei der Rettung eines Ertrinkenden selbst in Gefahr gerate).

Die Seele: Auch auf der geistigen Ebene gibt es Objekte von unterschiedlicher Seinqualität. Manches hat ein eigenes Sein, anderes ist nur die Eigenschaft geistiger Dinge. Die Seele jedoch ist nicht nur die Eigenschaft materieller Organismen (wie zum Beispiel die Software in einem Computer), sondern hat ein eigenes, unzerstörbares Sein. Die organisiert den Körper (angefangen mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle), gibt ihm Struktur und formt ihn zum menschlichen Leib. Die Seele ist die eigentliche Quelle von Person und Individualität; auch wenn der leibliche Ausdruck auch von materiellen Größen (Gene, Umwelt, Stoffwechsel, Epigenetik usw.) abhängt. Mann- und Frausein ist beispielsweise nicht nur eine körperliche Ausgestaltung der Gene, sondern ist auch Teil der seelischen Identität. Nach der Trennung vom Leib, die wir Tod nennen, existiert die Seele weiter.

Mann und Frau: Die Seelen der Menschen sind einander immer und absolut gleichwertig, aber nicht immer gleichartig. Wir Christen sehen in der Erschaffung von Mann und Frau auch eine geistige Realität. Diese Geschlechterdifferenz ist real und wurzelt in einer seelischen Identität, auch wenn wir sie nicht immer an körperlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten festmachen können. Wenn die Kirche daran festhält, dass die Ehe ein Bund zwischen Mann und Frau ist, dann können wir das nicht allein damit begründen, dass die Geschlechter bestimmte Eigenschaft mitbringen.

Die Ehe: Wenn Menschen heiraten, dann verändert der geschlossene Bund sie geistig. Ein Ehepaar geht anders aus dem Traugottesdienst heraus, als es hineingegangen ist. Diese Änderung ist nicht nur mit einer gesellschaftlichen Anerkennung zu erklären – oder mit dem Gefühl der Brautleute, jetzt angenommen zu sein. Zwei Menschen werden miteinander verbunden und prägen sich allein schon durch die sakramentale Eheschließung gegenseitig. Eine spätere Erklärung, dass diese Ehe nicht mehr bestehen soll, ändert nichts an dieser geistigen Wirklichkeit.

Wandlung: Auch wenn es in der Messfeier heißt, der Geist möge die Gaben für «uns zum Leib und Blut Jesu Christi werden» lassen, handelt es sich um eine reale Veränderung der Wirklichkeit von Brot und Wein. Für uns meint also nicht, dass diese Wirklichkeit nicht objektiv, sondern nur durch unsere Anerkennung geschehe. Aussagen, die Wandlung hätten Ähnlichkeit mit einem Andenken, das nur eine Bedeutung für den Besitzer habe, gehen am Glauben der Kirche und der Intention Jesu vorbei.
Für uns bedeutet vielmehr, dass die Wandlung uns zuliebe geschieht – für uns und unserem Heil. Für uns meint aber auch, dass diese Realität nur von uns Menschen erkannt werden kann. Es bedarf eines Geistes, um diese geistige Wirklichkeit zu erkennen. (Eine Maus, die an einer gewandelten Hostie knabbert, nimmt nicht Christus in sich auf – ihr fehlt der Geist für diese Wirklichkeit).

Der Priester: Zum Priester wird man nicht durch einen rechtlichen Auftrag, der an dessen Fähigkeiten geknüpft ist – so wie ein Handwerker aufgrund seiner handwerklichen Kunst die Erlaubnis erhält, ein Gewerk auszuführen und deshalb die Baustelle betreten darf. Jemand wird zum Priester, indem er eine geistige Vollmacht erhält – real, wirklich. Die Ausweitung dieser Vollmacht geschieht also nicht durch eine «Baustellenverordnung», sondern ist limitiert durch den, der diese Wirklichkeit verleiht. Wie ein Handwerker, der nicht nur den Auftrag, sondern das nötige Werkzeug und Arbeitsmaterial erhält.

Die Sakramente: Im Gegensatz zu den Sakramentalien (auch «rheinische Sakramente» genannt: Der Blasiussegen, das Aschekreuz, die «Tante im Kloster», das «Krippengucken» und «eine Opferkerze in der Kirche entzünden»), die ihre Wirkung tatsächlich erst durch die individuelle Beteiligung erhalten, vermitteln die Sakramente eine geistige Realität durch das Wirken Gottes (in leiblichen Zeichen). Wie auch beim Ehesakrament (siehe oben) kehren die Getauften nach der Taufe real verändert in die Welt zurück; ebenso verlässt der Beichtende den Beichtstuhl in einem anderen Zustand, als er ihn betreten hat. Könnten wir diese geistige Realität mit leiblichen Augen sehen, dann könnten wir diese Veränderung auch bei denen sehen, von denen wir nichts vom Sakramentenempfang wüssten.
Das gilt selbstverständlich für alle anderen Sakramente auch; so verleihen Taufe, Firmung und Weihe ein unauslöschliches Merkmal in der Seele; die Ehe bindet zwei Menschen zu einer neuen Zweier-Existenz, Eucharistie, Beichte und Krankensalbung führen den Menschen kraft ihrer seelischen Wirkung zum Heil.

Segen: Während der Glückwunsch von Menschen geäußert nur eine Absicht enthält («Mögest du Glück auf deinen Wegen haben!»), ist das Segenswort Gottes immer ein Versprechen Gottes, das sich auch real bemerkbar macht. Wer Segen vermittelt (der Priester segnet die Gemeinde, Eltern ihre Kinder, Ehepartner einander), stellt Menschen unter dieses Versprechen Gottes – wie unter einen Regen- oder Sonnenschirm. Ein Segen ist ein geistig-reales Angebot Gottes, dass aber durch den Gesegneten verworfen werden kann (derjenige «verlässt den Schutz des Schirmes»). Segen ist nicht nur wirksam, wenn der Gesegnete ihn bewusst empfängt und glaubt, – sondern wirksam durch den Spender, durch Gott; wird aber unwirksam, wenn er abgelehnt wird.
Die Vermittlung von Segen kann durch Worte, Gesten oder auch durch Gegenstände geschehen (zum Beispiel durch die Weihe von Medaillen, Kreuzen, Kerzen und Bildern); auch kann der Segen, den wir einem Menschen zusagen, sich auch auf die in seinem Dienst stehende Gegenstände oder Dinge beziehen (zum Beispiel auf Wohnungen oder Autos). Auch dieser Segen ist eine geistige-reale Wirklichkeit, die zwar nicht das Auto verändert (Autos haben keinen Geist), aber die Zusage Gottes mit dem Auto verbindet.

Moral: Gut und Böse sind nicht in das Belieben einer eigenen Definition gelegt. Ob ich die geistige Wirklichkeit einer anderen Person respektiere oder mit Füßen trete, ist real. Ich kann mich nicht darauf berufen, dass ich nunmal andere Ansichten habe – die geistige Wirklichkeit der Würde des Menschen ist objektiv. So sind auch meine Handlungen objektiv gegen diese Würde gerichtet oder im Einklang mit ihr. Dennoch bedarf es einer geistigen Einsicht, um das zu erkennen – allein der materielle Befund von Schaden oder Nutzen trügt oft genug. Zudem ist es nicht möglich, lediglich durch Erteilung einer Erlaubnis (beispielsweise zum vorehelichen Geschlechtsverkehr) diese real-existierende Ordnung des Seins zu verändern.
Gut und Böse können nicht durch die Naturwissenschaften erkannt werden, weil sie geistige Größen sind. Gut und Böse ergeben sich ebensowenig aus der puren Funktion, die diese Zuschreibung für den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Eine Gesellschaft, die sich Normen gibt, die gegen geistige Wirklichkeit der Seele und Würde des Menschen gerichtet sind, kann auf Dauer keinen Bestand haben.

Zeichen sehen: Darüberhinaus ergibt sich aus dem Gesagten, dass wir an eine objektive Bedeutung der Welt glauben, die aber von jedem selbst auf erkannt werden muss. In der Katechese «Zeichen sehen» habe ich ausgeführt, dass die Bedeutung von Ereignissen nicht rein fiktiv-subjektiv vom Menschen erschaffen wird – sondern objektiv vorhanden ist. Und gleichzeitig wird dort behauptet. dass die Bedeutung unter Umständen nicht allgemeingültig festgestellt werden kann – sondern für jeden, der dieses Ereignis erlebt, anders sein mag.

Der scheinbare Widerspruch hebt sich auf, indem wir erkennen, dass der Sinn von Ereignissen kein eigenes Sein hat wie ein Engel, eine Seele oder Gott. Der Sinn von Ereignissen ist wie ein Zeichen, ein Brief oder eine Frage – eine Aufmunterung oder Ermahnung. Wie eine Frage, die der Lehrer an eine ganze Klasse voller Schüler stellt («Habt ihr auch gut gelernt?!»), die aber jeder der Schüler aufgrund seiner eigenen Situation mal als Lob, mal als Kritik, mal als Wachruf versteht.

Gott lässt Ereignisse zu, die nicht von Ihm verursacht und eventuell auch nicht gewollt sind. Er lässt er sie zu, nicht ohne darin einen größeren Sinn für uns Menschen zu bewirken. Dieser Sinn ist objektiv und wird nicht erst durch positives Denken vom Menschen erschaffen. Und dennoch kann er für jeden Menschen in etwas anderem bestehen, weil Gott für jeden Menschen einen anderen Gewinn im Blick hat.

Woher kommt’s?

Es mag sein, dass die Abschaffung einer objektiven geistigen Welt im Gefolge der Aufklärung und der deterministischen Naturwissenschaften aufkam. Zwar hat die moderne Physik den Determinismus (das ist der Glaube, dass alles in dieser Welt allein durch physikalische Prozesse absolut und ausreichend bestimmt ist) längst abgelegt und überwunden; herumgesprochen hat sich diese Erkenntnis noch nicht wirklich. In den Köpfen vieler Theologen regiert noch immer die Angst, aufgrund eines Glaubens an Wunder, Fügung, Engel und Dämonen von aufgeklärten Naturwissenschaftlern belächelt zu werden. (Dazu steh so einiges in der biografischen Katechese «Die Evolution (m)eines Glaubens»

Vielleicht hat die heutige Theologie wirklich Angst, den Anschluss an die Aufklärung zu verlieren – obwohl die deterministische Naturwissenschaft der Aufklärung längst von der Physik inzwischen ad acta gelegt wurde. Vielleicht geht es aber auch nur um einen kurzfristigen Gewinn von gesellschaftlicher Akzeptanz – oder der subjektiven Überzeugung, jeder übernatürlich fundierte Glaube sei dem Untergang geweiht. Deshalb hilft meiner Meinung nach vor allem eines: Der Aufweis, dass gerade die übernatürliche Wirklichkeit dem Bedürfnis der Menschen entspricht. Jeder Mensch verlangt nach geistiger Realität (weil er Mensch ist), auch wenn er sich das öffentlich nicht eingesteht. Und wir haben die Antwort darauf geschenkt bekommen.

Wir können den Theologen die Angst nehmen, sich vor der Gesellschaft zu blamieren, aber wir können sie nicht vor Spott und Hohn bewahren. Denn das ist die Art und Weise unserer Zeit, auf eine Wirklichkeit zu reagieren, die man nicht wahrhaben will, aber nicht leugnen kann.

Genauso können wir jedem Getauften Mut machen, sich dieser Angst zum Trotz zur Wahrheit des Glaubens zu bekennen: Wir werden mit dieser Botschaft sehnlichst erwartet. Die Angst, sich öffentlich zu blamieren, sollte uns nicht davon abhalten, Menschen zu Gott zu führen und ihnen damit die größere Wirklichkeit zu eröffnen, auf die hin sie geschaffen wurden.
Nirgendwo anders liegt der Schlüssel zum Glück eines jeden Einzelnen.

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Last modified: 10. März 2021