In der Reihe der Bibelstellen, die eine zweifelhafte allgemeine Auslegung erfahren haben, möchte ich auch das Gleichnis vom Schatz im Acker und der Perle behandeln. Denn wenn man beachtet, wovon die benachbarten Reich-Gottes-Gleichnisse bei Matthäus handeln, verändert sich die Bedeutung des Gleichnisses radikal.
Das Gleichnis vom Schatz im Acker und der Perle – Mt 13,44-46
44 Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn und grub ihn wieder ein. Und in seiner Freude ging er hin, verkaufte alles, was er besaß, und kaufte den Acker. 45 Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. 46 Als er eine besonders wertvolle Perle fand, ging er hin, verkaufte alles, was er besaß, und kaufte sie.
Die allgemein bekannte Auslegung
Der Schatz und die Perle werden häufig als Reich-Gottes-Botschaft gedeutet oder mit dem Glauben gleichgesetzt. Der Mann, der den Schatz oder die Perle entdeckt, scheint also der Christ zu sein, der das Evangelium für sich entdeckt und bereit ist, für dieses wunderbare Geschenk alles herzugeben, sein Leben zu ändern und um des Glaubens willen auf jeden materiellen Besitz zu verzichten. Die unbedingte Vorrangstellung des Glaubens wird dabei zum Ideal – ähnlich dem Aufruf Jesus, ihm nachzufolgen und dabei alles andere hintan zu stellen. Demnach wäre das Gleichnis moralischer Art: Jesus fordert ein Verhalten von uns, dem Glauben nichts anderes über- oder beizuordnen.
Seltsam
Seltsam daran ist, dass diese Auslegung so gar nicht mit den anderen Gleichnissen Jesu zum Reich Gottes harmoniert. Die Gleichnisse, die sich zusammen mit dem Schatz-Perle-Gleichnis bei Matthäus im 13. Kapitel finden, haben nämlich allesamt keinen moralischen Anspruch, sondern erzählen von Gott. Wie Gott ist, wie er handelt, was er tut – das ist Inhalt der Gleichnisse. Immer ist die handelnde Person in den Gleichnis (wenn sie erwähnt wird) Gott. Das gilt auch für andere Gleichnisse, die sich zum Beispiel bei Lukas finden: Der Hirt, der das verlorene Schaf sucht, die Frau mit der verlorenen Drachme oder der barmherzige Vater, der Königssohn oder der Weinbergbesitzer: Immer wird Gott durch die Gleichnisse charakterisiert.
Es gibt auch Ausnahmen. Zum Beispiel das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, bei dem es am Ende ausdrücklich heißt: «Dann geh und handle genauso!»; ebenso beim Gleichnis von der klugen und törichten Jungfrauen („Seid also wachsam!») -(Lk 10,25-36 und Mt 25,1-13).
Dem Gleichnis vom Schatz im Acker und der Perle ist jedoch kein Appell beigefügt, sondern es gehört eindeutig in eine Reihe von Gleichnissen, die immer wieder mit der rhetorischen Frage Jesu unterbrochen werden: «Womit sollen wir das Reich Gottes noch vergleichen? Es gleicht…» – Es geht also mitnichten um einen moralischen Aufruf, sondern um die Beschreibung der Gottesherrschaft, also letztlich um die Charakterisierung Gottes.
Zu den Reich-Gottes-Gleichnissen im 13. Kapitel bei Matthäus gehören: 13,1-9: Das Gleichnis vom Sämann (bei Markus 4,1-9; bei Lukas 8,4-8); 13,24-30: Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (nur bei Matthäus), 13,31-32: Das Gleichnis vom Senfkorn (bei Markus 4,30-32; bei Lukas 13,18f), 13,33: Das Gleichnis vom Sauerteig (bei Lukas 13,20f), Mt 13,44-46: Das Gleichnis vom Schatz und der Perle und Mt 13,47-50: Das Gleichnis vom Fischnetz (beide nur bei Matthäus).
So ist es viel schöner!
Wenn wir also nicht den Mann, der Acker und Perle kauft, mit den gläubigen Christen identifizieren, sondern mit Gott, bekommt dieses Gleichnis einen vollkommen anderen Sinn – und, so meine ich, einen viel schöneren!
Denn dann ist der Mann, der alles aufgibt, um den Schatz im Acker und die Perle zu erwerben, niemand anderes als der menschgewordene Gott, der sich sogar bis zum Kreuz alles nehmen lässt, um den Menschen zu erwerben. Wir Menschen sind der Schatz im Acker – und Gott will uns für sich gewinnen!
Diese Deutung ist nicht nur ganz anders als die bisherige, die einen moralischen Anspruch erhebt. Sie lässt das Gleichnis in einem einmaligen Licht erscheinen! Die für viele zentrale Stelle des Evangeliums in Johannes, 3,16 («Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.») wird hier in ein Gleichnis gekleidet und zugleich konkretisiert. Denn, so liegt es nahe, ist im Gleichnis der Acker die Welt und der Schatz darin der Mensch, für den Gott bereit ist, sein Leben hinzugeben. Ebenso möglich und genauso schon ist die Deutung, dass der Schatz und die Perle sich im Menschen finden, aber erst noch „gehoben“ werden müssen. Dann wäre die Erlösung nicht nur der „Erwerb“, sondern zugleich die Vervollkommnung des Menschen.
Wie immer man zu dieser Umdeutung des Gleichnisses stehen mag: Es passt in jeder Hinsicht zu den zahlreichen anderen Aussagen über die Erlösungstat Jesus, der uns damit freikauft (zum Beispiel in 1 Petrus 1,18-19 oder Gal 13,3), ja, der uns «erworben» hat (Apg 20,28 oder Offb 5,9) und der dafür auf alles verzichtet (Phil 2,7). Darüberhinaus wird der Mensch sogar als ein «Schatz» bezeichnet – was dieses Gleichnis einmalig macht.
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