Eine Vaterunser-Katechese

Ein Gebet ist eine geistliche Begegnung mit Gott, den Heiligen oder unseren Verstorbenen. Zum geistlichem Erleben und zur Erbauung lässt sich dazu unendlich viel schreiben – und so gibt es auch eine unüberschaubare Literatur zum Gebet. Auch zum «Gebet des Herrn», dem Vaterunser.
Gerade weil dieses Gebet aber 2000 Jahre alt ist und selbst in der Übersetzung eine alte Sprache verwendet, bedarf es zur geistlichen Erschließung auch ein Hilfe zum Verstehen der Vater-unser-Bitten. Da zunehmend der Hintergrund eines jeden Gebetes – das Glaubenswissen – verdunstet, das Gebet aber immer in den Rahmen des Glaubens eingebettet ist, begreifen wir manchmal auch dann die Bedeutung der Gebetsbitten nur schwer, wenn wir die Worte verstehen. Es lohnt sich also, eine eigene Katechese zum Vaterunser zu schreiben.

Die 2. Bitte des Vaterunsers: Dein Reich komme

Kurz gefasst heißt «Dein Reich komme», dass die Welt wieder so wird, wie Gott sie sich gedacht hat. Dass sie es zur Zeit nicht ist, zeigt uns jedes Leid, jedes Verbrechen und jede Untat.

Allerdings ist mit Reich nicht Herrschaft im weltlichen Sinne gemeint (ein Fehler, der oft von Evangelikalen gemacht wird), so als müssten nur alle Gott gehorchen, und schon wäre das Paradies wiederhergestellt. Oder, noch seltsamer, als würden wir Gott auffordern, endlich seine königliche Macht anzuwenden! – Nein, mit dem biblischen Begriff der Königsherrschaft Gottes (basilea tou theou) ist keine Gewaltausübung durch Gott, sondern die Anerkennung der Königswürde durch den Menschen gemeint.

Ein Königreich existiert also überall dort, wo der König als Herrscher akzeptiert wird. Die Leugnung der Königswürde ist gleichbedeutend mit dem Austritt aus dem Reich des Königs.

Mit der Bitte um das Kommen des Reiches wird also nicht etwas Gott aufgefordert, endlich seine Herrschaft auszuüben. Vielmehr geht es bei der Bitte um die Bekehrung der Menschen, Gott als Herr anzuerkennen und sich Ihm vertrauensvoll anzugleichen. So heißt es auch zu Beginn des Markus-Evangelium: «Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!» – Mk 1,14.

Mit dem kommenden Reich ist nicht die Ausbreitung eines Territoriums oder das zeitliche Kommen der Gottesherrschaft gemeint, sondern eine Verwandlung des Menschen in eine neue Existenz.

Die 3. Bitte des Vaterunsers: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

Dein Wille geschehe…

So, wie die Gottesherrschaft auch in christlichen Kreisen oft missverstanden wird, ist auch die Bitte «Dein Wille geschehe» missverständlich. Geht es hier um Gehorsam? Muss ich auf meinen Willen verzichten und forschen, was Gottes Absicht ist?

Tatsächlich sollen wir nicht im eigentlichen Sinne nach dem fragen, was Gott will, sondern nach dem, was Er für uns will. Und das besteht nicht in konkreten Handlungsanweisungen, sondern im Erreichen der Liebesgemeinschaft mit Ihm. Der Weg dorthin ist für uns Christen klar: Es ist die inneren Einheit mit Christus («Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» – Joh 14,6). Wir brauchen den Willen Gottes also nicht gesondert zu erfragen; Gott hat Seinen Willen in Christus geoffenbart («Ich will, dass alle eins sind – so wie der Vater und der Sohn eins sind» – Joh 10,30).

Vielmehr geht es darum, dass dieser uns längst bekannte Wille Gottes Wirklichkeit wird. Wie auch in den anderen Bitten, die sich scheinbar nur auf Gott beziehen («Dein Name werde geheiligt») ist der Kern diese Bitte also der Wunsch nach der eigenen Umkehr – und der Hinwendung zu Christus für alle anderen Menschen.

Es wird mit dieser Bitte nicht um eine Unterordnung unter den Willen Gottes erbeten, sondern ein Einklang von Gott und Mensch. Letztlich geht es um Liebe, die immer Freiheit voraussetzt.

Wobei auch der Begriff «Gehorsam» nicht bedeutet, seinen eigenen Willen abzugeben, sondern sich den Willen eines anderen anzueignen. Gehorsam setzt Hören und Hinhören voraus – genauso wie Vertrauen und Freiheit. So heißt es in einem Gebet aus dem Messbuch: «Gib, dass wir lieben, was du befiehlst». Liebe ohne Freiheit ist aber keine Liebe.


…wie im Himmel, so auf Erden

Wenn wir verstanden haben, was wahrer Gehorsam ist – nämlich ein gemeinsames Wollen in Liebe und Freiheit – dann erwarten wir das spätestens für unser jenseitiges Sein bei Gott. Dieses üben wir aber hier auf Erden schon ein und erfahren immer wieder einen Vorgeschmack darauf! In jeder menschlichen Liebe, Verliebtheit, Freundschaft und gelungenen Beziehung wird ein Teil davon schon irdische Wirklichkeit. Wie im Himmel, so auch auf Erden.

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