Eine Vaterunser-Katechese

Ein Gebet ist eine geistliche Begegnung mit Gott, den Heiligen oder unseren Verstorbenen. Zum geistlichem Erleben und zur Erbauung lässt sich dazu unendlich viel schreiben – und so gibt es auch eine unüberschaubare Literatur zum Gebet. Auch zum «Gebet des Herrn», dem Vaterunser.
Gerade weil dieses Gebet aber 2000 Jahre alt ist und selbst in der Übersetzung eine alte Sprache verwendet, bedarf es zur geistlichen Erschließung auch ein Hilfe zum Verstehen der Vater-unser-Bitten. Da zunehmend der Hintergrund eines jeden Gebetes – das Glaubenswissen – verdunstet, das Gebet aber immer in den Rahmen des Glaubens eingebettet ist, begreifen wir manchmal auch dann die Bedeutung der Gebetsbitten nur schwer, wenn wir die Worte verstehen. Es lohnt sich also, eine eigene Katechese zum Vaterunser zu schreiben.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Als einzige Bitte im Vaterunser enthält diese Bitte einen Rückbezug zu unserem eigenen Verhalten, weshalb sie manchmal als «Bumerang-Bitte» bezeichnet wird. Wenn wir Gott um eine großzügige Vergebung unserer Sünden bitten, verpflichten wir uns dazu, uns ebenso zu verhalten.
Tatsächlich wird diese Bitte genauso gesehen und von der vollkommenen Barmherzigkeit Gottes auf die Pflicht geschlossen, ebenso barmherzig zu handeln. Bei Lukas heißt es: «Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.» – Lk 6,36.

Die göttliche, wahre Barmherzigkeit nicht nämlich in einer unterschiedslosen Amnestie, die alles und jeden freispricht. Deshalb darf diese Bitte auch im umgekehrten Sinne verstanden werden: So, wie Ihr bei den Sündern vor jeder Vergebung Reue, Umkehr und Vertrauen erwartet, so vergibt Gott auch Euch. Gottes Vergebungsbereitschaft ist unendlich, wie Jesus in der Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) deutlich macht – oder im Gleichnis in Mt 18,15-22, in der die unvorstellbare Schuld von zehntausend Talenten vergeben wird. Aber aus der unendlichen Vergebungsbereitschaft wird erst dann wirkliche Vergebung, wenn der verlorene Sohn zurückkehrt – oder der Knecht im zweiten Gleichnis sich der Vergebung entsprechend verhält.

Einige Theologen gehen davon aus, dass bei Matthäus das Verb «vergeben» nicht im Futur, sondern im Aorist steht; es hieße dann nicht: «Wie auch wir vergeben werden» sondern «wie auch wir vergeben haben». Gott misst also Sein Verhalten an dem von uns zuvor selbst angelegten Maßstab.
Bei dieser Deutung habe ich allerdings leichte «theologische Bauchschmerzen», denn Gott ist «größer als unser Herz» (1 Joh 3,20) und vergilt uns nicht nach dem einfachen «wie du mir, so ich dir»-Schema.
Wie auch immer das «so – wie wir» gedeutet wird: Wir fordern nicht Gott auf, Vergebung anzubieten. Wir bitten darum, dass Gottes Vergebungsbereitschaft uns verwandelt.

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