Es gibt nicht nur bei den Gleichnissen Jesu die Schwierigkeit, dass wir sie nur richtig verstehen können, wenn wir die jüdische Lebenswirklichkeit und das damalige Brauchtum kennen. Auch bei vielen Reden Jesu fehlt uns der Zugang zum Eigentlichen, wenn wir die jüdischen Traditionen außer Acht lassen.
Das fällt besonders bei der Geschichte vom «Ährenraufen» der Jünger auf. Die Situation ist zunächst nicht schwer: Die Jünger Jesu pflücken Kornähren, obwohl das am Sabbath verboten war. Auf den Vorwurf der Pharisäer hin rechtfertigt sich Jesus aber mit Bezügen auf jüdisches Glaubenswissen, das wir nicht wirklich verstehen. Was will Jesus damit sagen?
Gottseidank hat ein amerikanischer Professor für Bibelauslegung angefangen, sich in die jüdischen Schriften einzuarbeiten (nicht nur die Schriften der Bibel, sondern auch in die unterschiedlichsten traditionellen jüdischen Texte der rabbinischen Tradition). Was Brant Pitre dabei herausgefunden hat, lässt diese Erzählung in einem neuen Licht erscheinen.


Die Bibelstelle in der Einheitsübersetzung

Sabbat und religiöses Gesetz (Matthäus, Kapitel 12, Verse 1-8)
1 In jener Zeit ging Jesus am Sabbat durch die Kornfelder. Seine Jünger hatten Hunger; sie rissen Ähren ab und aßen davon. 2 Die Pharisäer sahen es und sagten zu ihm: Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist. 3 Da sagte er zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren – 4 wie er in das Haus Gottes ging und wie sie die Schaubrote aßen, die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die Priester essen durften? 5 Oder habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? 6 Ich sage euch: Hier ist Größeres als der Tempel. 7 Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt; 8 denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.

Hat Jesus den Sabbat gebrochen?

Als Brant Pitre der seltsamen Argumentation Jesu auf den Grund geht, stellt er fest, dass die klassische Auslegung dieser Bibelstelle zwei Fehler macht: Zum ersten geht es im diesem Dialog mit den Pharisäern nicht um die Frage, wie der Sabbat zu halten bzw. einzuschätzen sei; denn (zum Zweiten) hat Jesus das Sabbatgesetz überhaupt nicht gebrochen.

Darüber hinaus findet sich in der jüdischen Tora bzw. dem Alten Testament keine Vorschrift, die das Abreißen von Ähren am Samstag verbietet. Aber das ist nicht die Argumentation Jesu – offensichtlich akzeptiert er die Tradition der Juden, bei denen wohl in einer mündlichen Tradition das Abreißen der Ähren als dem Sabbat unangemessen galt.

Im ersten Teil der Erwiderung Jesu beruft er sich auf eine Szene aus dem Alten Testament, dem Buch Samuel (1 Samuel 21,2-7), in der der damalige Hohepriester Ahimelech David das Essen der Schaubrote erlaubt. Schon diese Bibelstelle wird – so Brant Pitre – oft falsch gedeutet. Denn Ahimelech erlaubt David und seinen Kriegern den Verzehr der Brote nicht entgegen dem jüdischen Gesetz, sondern befolgt dabei das Gesetz. Denn die Schaubrote wurden zwar zunächst eine Woche lang im Tempel ausgelegt und durften von niemanden verzehrt werden, aber nachdem sie weggeräumt und durch frische Brote ersetzt wurden, war es den Priestern (und nur diesen!) erlaubt, die Brote zu essen; vorausgesetzt, sie waren kultisch rein, hatten also nicht mit ihren Ehefrauen verkehrt. Nun behauptet Pitre: David ist nicht nur König, sondern auch Priester – nach der Ordnung Melchisedeks.

Brant Pitre führt aus, dass bis zum Aufenthalt des Volkes Israel auf dem Weg von Ägypten ins gelobte Land jeder Vorsteher zugleich Priester war: Der König für sein Volk, der Stammesführer für seinen Stamm, der Familienvater für seine Familie. Diese Tradition hatten die Juden von Melchisedek übernommen, der zugleich Priester und König von Salem war, der Vorgängerstadt zu Jerusalem.
Erst, als das Volk bei der langen Abwesenheit des Mose begannen, mit der Verehrung des goldenen Kalbes einen Gegenkult einzuführen, wurde ihnen dieses Priesteramt entzogen und allein dem Stamm Levi gegeben. Dieses Priestertum wurde also nach der Ordnung des Mose verliehen (oder, wie es genannt wurde: Nach der Ordnung des Levi), nicht mehr nach der Ordnung des Melchisedek.

Dass David Priester war und priesterliche Tätigkeiten vollzog, wird an anderen Stellen deutlich – so trägt er zum Beispiel das Efod, das allein den Priestern vorbehalten war und bringt Opfer dar (2 Samuel 6,14-17). Ausdrücklich sagt Psalm 110,4 «Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks» – wobei damit zunächst David gemeint war.

Deshalb übertrat David kein jüdisches Gesetz, als er die Schaubrote einforderte. Das hat auch der Hohepriester Ahimelech nicht in Frage gestellt. Auch, dass David das Brot auch für seine Krieger einforderte, war kein Problem, den sie galten in dem Augenblick als die Priesterschüler Davids. Für Ahimelech gab es nur eine Frage, nämlich ob David und seine Gefährten auch das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit eingehalten habe. Das konnte David bestätigen (für Krieger im Feldzug galt das Enthaltsamkeitsgebot genauso wie für Priester im Tempeldienst), und so händigte Ahimlelech ihm fünf der Brote aus.

Jesus ist Priester

Wenn Jesus sich also auf den Genuss der Schaubroten durch David beruft, deutet er schon an, worum es in dieser Erzählung tatsächlich geht: Er nimmt nämlich das gleiche Recht für sich und seine Jünger in Anspruch, wie David für sich und seine Gefährten: Das Recht des Priesters.
Das verdeutlicht auch das zweite Argument, das Jesus erwähnt: Er verweist darauf, dass die Priester im Tempel von Jerusalem ausgerechnet am Sabbat Brot backen (und zwar wieder diese ominösen Schaubrote, die am Sabbat gebacken wurden und dann die Schaubrote der letzten Woche im Tempel ablösten) und damit eigentlich den Sabbat brechen. Da sie aber Priester sind und dazu verpflichtet, diesen Dienst zu vollziehen (Lev 24,5-8), wird es ihnen nicht als Sünde angerechnet.

Mit anderen Worten: Da Jesus auf das priesterliche Vorrecht des David verweist und danach auf das Tun der Priester im Tempel, behauptet er von sich, ebenfalls ein Priester zu sein; seine Apostel genießen dann die gleichen Rechte als Priesterschüler. Das, was die Apostel getan haben, ist also gar keine Übertretung der Sabbatvorschriften, sondern erlaubt: Weil sie Priesterschüler Jesus sind. Und Jesus ein Priester.

Mehr als der Tempel

Aber Jesus fügt noch einen dritten Satz hinzu: «Hier aber ist Größeres als der Tempel» (Vers 6). Denn das priesterliche Tun, auf das Jesus sich in den ersten beiden Argumenten beruft, ist ja nur im Tempel erlaubt. (Auch die jüdischen Tempelpriester durften am Sabbat nicht einfach zuhause soviel Brot backen, wie sie wollten). Nur im Tempel war das priesterliche Tun erlaubt. Jesus behauptet nun, selbst der Tempel zu sein, ja, sogar mehr als der Tempel.

Nach den ersten beiden Argumenten, die sich auf Schriftstellen bezogen und damit auf jüdische Traditionen, erhebt Jesus mit diesem dritten Argument einen Anspruch allein durch seine eigene Aussage, seine eigene Autorität; ja seiner Identität.

Jesus hatte noch zweimal in anderem Zusammenhang ähnliches behauptet: «Hier ist mehr als Jona» oder «Hier ist mehr als Salomo». Die Aussage hier ist aber noch einmal gewaltiger, denn wenn der Tempel Wohnort Gottes ist, dann ist derjenige, der größer als der Tempel ist, Gott selbst. Der gleiche, ungeheuerliche Anspruch gilt für die dann folgende Aussage, «Herr über den Sabbat» zu sein. Nur einer ist der Herr des Sabbats, nämlich der, der ihn bei der Erschaffung der Welt eingesetzt hat. Gott selbst.
Es geht also in der Bibelstelle, die vom Ährenpflücken der Apostel handelt, nicht um die Einordnung des Sabbats, sondern um die Identität Jesu. Er ist Gott.

Brant Pitre, Jesus und die jüdischen Wurzeln der Eucharistie, Be-Be-Verlag Heiligenkreuz 2022

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