Es ist eines der berühmtesten Details aus dem Kosmos der mittelalterlichen Kathedralen: das sogenannte „Labyrinth“ in Notre-Dame in Chartres.

Diese Kathedrale wird derzeit aufwendig renoviert, was nicht jeden glücklich stimmt. Irgendwie fehlt die Patina, der Kerzenruß, der typische Geruch. Eine Kirche ist kein Museum, in dem in Vitrinen alte Paramente und Kelche ausgestellt werden. Natürlich gibt es auch gelungene Renovierungen, wie etwa die Basilika Sacré-Cœur in Paray-le-Monial im französischen Burgund. Doch jeder Eingriff in eine alte Substanz ist heikel und braucht viel Fingerspitzengefühl.

Zurück nach Chartres: Ein Labyrinth, das ist so etwas wie ein Irrweg. Da verläuft man sich und findet im Leben nicht mehr hinaus. Das ist dieses «Labyrinth» nicht. Es zeigt keinen Irrweg, sondern einen anderen Weg, der ein verschlungener Weg ist, der ein Gleichnis ist für unseren Weg und der zugleich eine Illustration darstellt zu dem, was Jesus meint, wenn er sagt: „Ich bin der Weg“ (Johannesevangelium 14,6).

Chartres ist jedes Jahr zu Pfingsten das Ziel einer großen Wallfahrt, in der die Pilger von Paris aus 100 km zu Fuß unterwegs sind.In diesem Jahr 2020 kann die Wallfahrt wegen der Pandemie nicht stattfinden. Umso mehr freuen sich die Menschen sicherlich, wenn sie wieder die Möglichkeit haben werden, dieses Bild mit eigenen Augen zu sehen.Man findet es auf dem Fußboden, manchmal von Stühlen zugestellt. Es ist sehr groß und gleichzeitig nicht absolut rund: von Westen nach Osten misst es 12,60 m und von Norden nach Süden etwas weniger, 12,30 m. Es hat eine deutliche Mitte, die ausgeformt ist wie eine Rosette, wie ein gotisches Radfenster, das wir aus den alten Kirchen kennen. Und von oben besehen, zeigt das Labyrinth deutlich das Zeichen des Kreuzes. – Beides, die Mitte und das Zeichen des Kreuzes, machen deutlich: Hier geht es um Christus. Um das Geheimnis seiner Gegenwart auf meinem Lebensweg. Um die Wirklichkeit seiner Begleitung, wenn ich unsicher bin auf meinen Wegen oder nicht mehr weiterweiß. Das zeigt dieses Labyrinth.

Schauen wir genauer hin: Da sind elf konzentrische Kreise in diesem Labyrinth. Sie alle sind im Original 34 cm breit, so viel, daß ein Mensch darin gehen und in ihnen seinen Weg abschreiten kann. Die Zahl elf kann etwas bedeuten. Zwölf Stämme Israels gab es, und darum auch zwölf Apostel. Zwölf Monate hat das Jahr, und wenn es hier nur elf sind, elf Kreise, dann fehlt noch etwas. Dann ist etwas noch nicht ganz zu Ende. Dann steht die Erfüllung noch aus. Jetzt bin ich noch unterwegs, aber eines Tages, da ist dieser Weg zu Ende. Da ist das Ziel erreicht. –

Genau davon erzählt dieses Labyrinth. Da gibt es keine Irrwege. Sondern wer den Linien folgt, wer getreu dem Weg nachgeht, der wird seine Entdeckung machen. Der stellt erst einmal fest: Das ist ein ziemlich langer Weg. Genau gesagt 294 Meter. Die kommen zusammen, wenn alles zusammengerechnet wird.

Und was das für ein Weg ist: Da geht es mal näher zur Mitte, so dass man fast meint, man wäre schon da. Aber dann stößt man an und muß wieder umkehren. Man dreht einfach um und meint: Jetzt war der Weg umsonst. Aber er war es nicht. Hier ist kein Weg vergeblich. Hier ist nichts zuviel. Doch das Ziel, das ich in ein paar Schritten zu erreichen glaubte, liegt noch in weiter Ferne. Ich muss beharrlich sein und darf den Plan nicht zu früh aufgeben.

Und plötzlich stehe ich in der Mitte. Nach den elf Kreisen ist der Punkt der Erfüllung erreicht. Ich stehe nun im Ziel. Und jetzt brauche ich nicht mehr nach unten zu schauen, auf die Linien, die mir den Weg vorgegeben haben. Ich kann nach oben schauen. Und wer das in Chartres tut, bekommt etwas Wunderbares zu sehen: Strahlende Fensterbilder leuchten den Betrachter an, und die fantastischen Rosetten, die in der Sonne funkeln und leuchten, sind so etwas wie Spiegelbilder des steinernen Weges hier auf der Erde. Viele verschlungene Wege gibt es hier auf der Erde, doch jeder Weg, der den Spuren Christi folgt, wird schon angestrahlt vom Licht der Herrlichkeit Gottes und der Verheißung der Auferstehung.

Wir kennen nicht die Menschen, die dieses großartige Meisterwerk in der Kathedrale von Chartres geschaffen haben. Wir können aber annehmen, dass sie geglaubt und verstanden haben, was Jesus auch heute zu uns sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“.

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Schlagwörter: , , Last modified: 23. Mai 2020