Ich kann mir vorstellen, dass einige Hirten in direkter Nähe zum Stall in Bethlehem noch vor der Erscheinung der Engel dort hineinschauten – vielleicht, weil sie das Kind gehört haben, vielleicht aber auch, weil sie selbst Schutz und Unterschlupf finden wollten.

Was sie dort im Stall gesehen haben, unterscheidet sich in Nichts von dem, was wir sehen, wenn wir auf unsere Krippe schauen. Sie hätten eine Mutter gesehen, ein Kind und den Vater – ein alltäglicher Anblick. Auch die Armut, der Esel und das Kind in der Krippe sind nichts, was auf das eigentliche schließen lässt – das göttliche Geschehen.

Die Hirten brauchten die Anrührung durch den Engel, um zu erkennen, was da geschehen ist. Engel als Wesen der Geistigkeit und geistigen Heilung mussten bei den Hirten öffnen, was bis dato bei allen Menschen verschlossen war: Die Bereitschaft, tiefer zu schauen. Hinter die Oberfläche.

Wir Menschen haben den – allzu verständlichen – Hang, bei der Oberfläche stehen zu bleiben. Ja, es gibt sogar Menschen, die sich nicht vorstellen wollen, dass es etwas anderes als die Oberfläche gibt. Sie glauben nur an von Physik und Chemie bestimmte Äußerlichkeit. Im Grunde sind es arme Menschen.

Wir wissen, dass es darunter eine Schicht gibt, die tiefer liegt: Dass wir Menschen über die Gesetze von Physik und Chemie hinaus zu Liebe fähig sind. Zu moralischem Handeln. Zu Opfer und Hingabe. Wir können hoffen und vertrauen. Wir sind Wesen, die tiefer reichen als jede Naturgesetzlichkeit. Manchmal braucht es allerdings einen Engel, um uns daran zu erineren.

Aber die Hirten, angerührt durch den Engel von Bethlehem, haben tiefer geschaut. Sie haben nicht nur einen Menschen gesehen. Nein, in der Botschaft des Engel ging es um etwas, das noch tiefer liegt.

Ein weiser Mensch hat einmal gesagt, dass jedes Kind ein Zeichen dafür ist, dass Gott die Hoffnung in diese Welt noch ncith aufgegeben hat. Das Kind in der Krippe ist mehr als alle anderen Zeichen der Liebe Gottes. Aber wenn jedes Kind ein Zeichen dieser Hoffnung ist, dann sind es auch die großen Kinder – ja, sogar jeder Mensch. Auch der, der jetzt neben ihnen sitzt, sogar der, der Ihnen unbekannt ist oder so nah, dass er Ihnen schon manchmal auf die Nerven geht: Sie alle sind Zeichen der Liebe Gottes zu dieser Welt. Sie alle sind Beweise dafür, dass Gott diese Welt noch nicht aufgeben hat. Wer so tief unter die Oberfläche schauen kann, der sieht die Welt mit anderen Augen – und der ist selbst ein tieferer Mensch geworden. Möge uns der Engel anrühren und uns die Augen öffnen für diesen tiefblickende Einsicht.

Aber die Augen der Hirten haben in dieser Heiligen Nacht noch tiefer geschaut. Es war nicht nur ein Zeichen für die Liebe Gottes, die sie dort entdeckt haben. Es war Gott selbst, der dort in der Krippe lag. Gott hat zum ersten und zum einzigen Mal in der Geschichte Fleisch angenommen – er ist eine unlösbare Verbindung mit der geschöpflichen Welt eingegangen. Aber eine, die die Welt bis heute verändert.

Denn der Leib Christi ist auch heute hier unter uns. Gott in seiner Verbundenheit mit der irdischen Wirklichkeit – nichts anderes meint „Leib Christi“ – ist auch hier anwesend. Gerade dazu brauchen wir immer wieder der Engel von Bethlehem, der uns die Augen öffnet und uns dort, wo wir nur Brot sehen, Gott erkennen lässt.

Gott hat sich im Leib Jesu, der in der Krippe lag, an diese Welt gebunden. Und diese Verbindung, der Leib Christi, ist auch hier in der Heiligen Messe gegenwärtig. Um uns zu verändern: Um uns zum Leib Christi zu verwandeln. Augustinus sagt: „Empfangt, was ihr seid: Leib Christi. Damit ihr werdet, was ihr empfangt: Leib Christi“. In der Taufe sind wir hineingenommen in den Leib Christi – Gott bindet sich auch an uns, wie er es in Bethlehem begonnen hat. Wir werden Teil seines Leibes. Und diese Leib-Christi-Sein wird immer wieder erneuert, wenn wir zur Kommunion gehen.

Das haben die Hirten gesehen, nachdem der Engel zu ihnen gesprochen hat: Gott ist im Fleische. Das können wir sehen, wenn wir uns vom Engel berühren lassen: Gott ist im Nachbarn. Gott ist im Bruder, in der Schwester. Gott ist im Nächsten. Er ist im Brot. Sein Leib, der die Kirche ist, nimmt auch mich an und verwandelt mich.

Wenn wir auf den Nächsten schauen, unter die Oberfläche, und nicht nur Chemie, Physik, Körperbau und Äußeres sehen; wenn wir im Nächsten einen Menschen mit Leib und Seele, mit Geist und Liebesfähigkeit erkennen; wenn wir darüber hinaus in jedem Menschen die Botschaft Gottes an seine Welt hören: „Ich habe Euch noch nicht verloren gegeben!“; wenn wir sogar in jedem, der getauft ist, ein Glied im Leib Christi erkennen – dann hat uns der Engel der Weihnacht berührt.

Wenn wir all dies im Nächsten erkennen – dann auch in uns selbst. Wir sind Körper, wir haben Geist. Wir sind Gottes geliebte Kinder und Glieder am Leibe Christi.

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Schlagwörter: , , Last modified: 6. Mai 2020