Wie sehr Jesus Christus wirklich gelitten hat, können wir kaum nachvollziehen. Überhaupt fällt es uns bei einem anderen Menschen schwer, dessen Leid zu ermessen.
Trotzdem möchte ich einmal ganz vorsichtig die ungewohnte Frage stellen, ob nicht andere Menschen, zu anderen Zeiten der Geschichte, mehr gelitten haben als Jesus Christus.
Wer heute in die Weltgeschichte schaut, die Leidensgeschichten von Kriegsflüchtlingen betrachtet, auf die Opfer von Hungersnöten und Epidemien schaut, der sieht oft nicht-enden-wollendes Leid. Und trotz unserer modernen Medizin leiden Menschen heute immer noch, oft jahrelang, auch in unserer westlichen Welt, an den neuen Geißeln der Menschheit: Krebs, Unfälle und andere heimtückische Krankheiten. Wir brauchen uns von diesen Schicksalen gar nicht einmal die schlimmsten herausnehmen, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Menschen oft weitaus größeres Leid zu tragen haben, als der Tod am Kreuz es gewesen ist.
Liebe Schwestern und Brüder, unser Leben ist kein gleichmäßiger, ruhiger Fluss, der sich stetig von den Höhen der Jugend bis zu den Niederungen des Alters bewegt. Unser Leben hat, egal wie lange es dauert, immer wieder Höhen und Tiefen. Den glücklichen, erfüllten Momenten, voller Freude und Zuversicht, stehen Zeiten der Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit gegenüber. Besonders bedrückend ist es, wenn solche Momente sich sehr abrupt abwechseln; wenn Geburt und Tod nahe bei einander liegen. Wer kann schon solche Höhenunterschiede in kurzer Zeit verkraften?
Von Gott allerdings, so glauben wir, gibt es keine Veränderung. Er ist heute, gestern und in Ewigkeit derselbe. Der «unbewegte Beweger» so sagen die Philosophen. Der Schöpfer der Welt und allen Menschen gleich liebevoll gesonnen.
Größer könnte der Unterschied zwischen Gott und Mensch kaum gedacht werden. Aber unser Gott ist nicht so ferne geblieben. Er thront nicht auf den höchsten Höhen und blickt mit Mitleid und Unverständnis auf unsere Sorgen. Gott liebt uns so, dass er seinen eigenen Sohn gesandt. Und Jesus Christus, Gott an Herrlichkeit gleich, hielt an dieser Herrlichkeit nicht fest, sondern hat sich zu uns herabgelassen. Ja, er wurde uns nicht nur gleich, sondern sogar noch viel niedriger als wir Menschen üblicherweise sind: Er wurde zu den Verbrechern gezählt und hingerichtet.
Die Größe des Leids, liebe Schwestern und Brüder, liegt nicht in der Tiefe und in der Dauer des Leides. Auch die Schmerzen können wir nicht messen. Die Größe des Leides liegt im Höhenunterschied, den das Leben von uns abverlangt. Der eigentliche Schmerz liegt in der Talfahrt von den Höhen des Lebens hinab. Ja, das eigentliche Leid liegt genau darin: Dass Hoffnungen sich zerschlagen; dass Freude so abrupt enden kann; dass wir uns sagen: Es hätte doch so schön kommen können, und jetzt das.
In diesem Sinne hat Jesus Christus wirklich mehr gelitten als jeder andere von uns, ist tiefer gesunken und hat mehr verloren, unendlich viel mehr.
Was heißt dann aber Trost? Worin besteht Trost? Wie geht es, solches Leid auszuhalten, nicht zu verzweifeln oder zu resignieren?
Das kann nur der, der alles umfangen hält. Der in den Niederungen des Lebens noch einen Blick für die Höhen hat. Der aufschauen kann, woher er gekommen ist und wohin es wieder geht. Der sich vorstellen kann, die nächsten Höhen wieder zu erreichen. Oder der zumindest die Hoffnung auf die endgültigen Höhen des Himmels nicht verliert.
Wenn wir Leid so sehen und zu begreifen versuchen, dann können wir wirklich auf diesen Schmerzensmann schauen und darin Trost finden. Jesus ist von den Höchsten Höhen, von der himmlischen Herrlichkeit herab in die größte Not, von Gott und den Menschen verlassen zu sein, gesunken. Er hat mehr verloren und mehr Leid ertragen, als je ein Mensch dies konnte. Aber er hat alles dies getan, weil er in jedem Augenblick wusste, wofür er es tut: Für uns. Für jeden Einzelnen von uns. In jedem Augenblick seines Hinabsteigen wusste er, dass er uns damit den Weg nach ganz oben eröffnet. Er hat nie den Blick verloren für die endgültige Höhe Himmels, in die Gott ihn und auch uns erhöhen wird. Deshalb finden wir Trost in seinem Leiden, auch wenn wir manchmal meinen, unseres sei größer.
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