«Christliche Anthropologie»
Im Glauben und in der Theologie beschäftigen wir uns viel mit der Frage nach Gott – seiner Existenz und der Frage, was für ein Gott er eigentlich ist. Um Gott zu erkennen, müssen wir die Quellen der Theologie gründlich untersuchen; wir nennen diese Quellen der Gotteserkenntnis »Offenbarung«; denn wir könnten von Gott nichts wissen, wenn er sich selbst nicht zu erkennen gäbe.
Wer »Offenbarung« hört, denkt natürlich zuerst an die Bibel und das, was Jesus Christus uns von Gott gezeigt hat. Aber darüberhinaus gibt es die sogenannte »natürliche Offenbarung«, die wir in der Schöpfung entdecken. Paulus schreibt sogar, dass wir nur durch das Anschauen der Natur (damit ist nicht nur die bunte Pflanzenwelt in Omas Garten gemeint, sondern alles, was geschaffen ist) erkennen können, dass es einen Gott gibt.
Von allen natürlichen Geschöpfen ist der Mensch die größte und schönste Offenbarung Gottes – denn Gott hat ihn nach Seinem Ebenbild erschaffen. Eine christliche Anthropologie ist also nicht nur eine Betrachtung des Menschen, sondern ein Blick durch den Menschen auf dessen Schöpfer – auf Gott. Und umgekehrt: Je mehr wir von Gott wissen, umso mehr verstehen wir, wozu der Mensch ursprünglich berufen war, bevor seine Ebenbildlichkeit durch die Sünde getrübt wurde. Wer auf Gott schaut, begreift überhaupt erst den Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit.
Philosophische Anthropologie
Zunächst ist die Frage »Was ist der Mensch?« wenig alltagsrelevant: Wir alle wissen, was ein Mensch ist. Vor allem wissen wir, wer ein Mensch ist: Oma, Opa, die Familienmitglieder, die Nachbarn und Freunde und so weiter. (Für kleine Kinder mögen die Unterschiede gelegentlich verwischt erscheinen und sie erkennen Stofftieren und fiktiven Figuren ein scheinbar ebenbürtiges Menschsein zu. Aber bei gezieltem Nachfragen wissen auch schon die Kleinsten, dass es sich dabei um eine Illusion handelt.)
Erst an den »Rändern« der menschlichen Existenz wird deutlich, dass wir intensiver darüber nachdenken müssen, was ein Mensch ist und was ihn mit einer unverwechselbaren Würde auszeichnet:
Im Zusammenhang mit der Abtreibung stellt sich die Frage, ab wann ein Mensch existiert; im Zusammenhang mit der Organtransplantation oder der Sterbehilfe müssen wir uns der Frage stellen, bis wann wir einen Menschen seiner Würde entsprechend behandeln müssen; im Zusammenhang mit Tierversuchen (oder auch schon der Frage, ob wir Tiere töten und essen dürfen) stellt sich die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet – und im Zusammenhang mit einer (heute gottseidank seltenen) Herrenrassen-Ideologie stellt sich die umgekehrte Frage, ob es eine fortschreitende Evolution gibt, die wiederum das Recht verleiht, Menschen wie Tiere zu behandeln (was leider nicht so selten passiert).
Aber auch ohne nach diesen »Rändern« der menschlichen Existenz zu fragen, gibt es Aussagen über das Wesen des Menschen, die unseren bislang nicht reflektierten Erfahrungen widersprechen – und die von großer Alltagsbedeutung ist: Sind letztlich alle Menschen zunächst gleich und gleichartig – und entwickeln sich erst später z.B. zum Abiturienten oder Hauptschüler? Oder gibt es ein Intelligenz-Gen? Wählen die Menschen ihr Geschlecht und ihre sexuelle Identität oder ist sie ihnen vorgegeben? Ist der Mensch frei und damit für sein Tun verantwortlich oder ist er letztlich ein Produkt seiner Erziehung oder seiner Gene? Sollte die Erziehung der Kinder von Anfang an verstaatlicht werden, damit alle Menschen wirklich eine gleichwertige Chance erhalten?
Das Mitspracherecht der Christen: Eine Mitsprachepflicht
Nicht wenige Zeitgenossen billigen der Kirche und der Religion in diesen Fragen kein besonderes Mitspracherecht zu – die Kirche sei (so die verbreitete Meinung) letztlich so etwas wie ein Kegelverein, dessen Mitglieder nach ihren eigenen, selbsterfundenen Spielregeln handeln. Für alle Vorgänge innerhalb des Vereins seien diese Regeln brauchbar; wer möge, könne danach leben. Aber warum sollte der Staat Kegelclubs, Kaninchenzuchtvereine, die Kirche oder die FIFA nach ihrer Meinung fragen, wenn es zum Beispiel um die Diskussion bezüglich der Embryonenforschung geht?
Warum schweigen wir dennoch nicht? Etwa, weil wir keinen Glauben an einen Gott haben können, der nicht auch ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt? Ja, das auch. Aber noch viel mehr gilt: Wer keinen Glauben an Gott und damit ein bestimmtes Gottesbild hat, kann auch kein wirkliches Menschenbild haben. Jede Offenbarung über Gott ist auch eine Beschreibung des Menschen; eine reine Naturwissenschaft kann niemals zu einem Begriff wie Menschenwürde gelangen, geschweige denn von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde sinnvoll reden. Der Staat ist in seiner Vollmacht, die weltlichen Dinge zu regeln, auf Voraussetzungen angewiesen, die er sich selbst nicht geben kann (so ein Zitat von Böckenfoerde). Gott, Offenbarung, Theologie und Kirche schreiben dem Staat nicht vor, wie er sich zu organisieren hat, aber sie erweisen dem Staat den notwendigen Dienst, ihm die Wirklichkeit zu beschreiben. So wie die Naturwissenschaften sich zur unbelebten Natur äußern und der Staat dies tunlichst berücksichtigt, ebenso beschreiben Wirtschaftswissenschaften, Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften, Humanwissenschaften, Psychologie und Medizin bestimmte Aspekte der Wirklichkeit.
Vergleichbare gilt für die Theologie. Für den Staat sind vor allem jene Aussagen der Theologie nicht selbst ableitbar, die sich auf moralische Werte und die Würde des Menschen beziehen.
Wenn sich die Politik nicht um die Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften kümmert, schadet das vor allem dem Menschen und somit auch dem Politiker selbst. Es ist also gut, hinzuhören, was die christliche Anthropologie zu sagen hat. Und es ist wichtig, dass die Christen auch etwas zu sagen haben – und vor allem wissen, was sie sagen sollten.
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