Eine Vaterunser-Katechese
Ein Gebet ist eine geistliche Begegnung mit Gott, den Heiligen oder unseren Verstorbenen. Zum geistlichem Erleben und zur Erbauung lässt sich dazu unendlich viel schreiben – und so gibt es auch eine unüberschaubare Literatur zum Gebet. Auch zum «Gebet des Herrn», dem Vaterunser.
Gerade weil dieses Gebet aber 2000 Jahre alt ist und selbst in der Übersetzung eine alte Sprache verwendet, bedarf es zur geistlichen Erschließung auch ein Hilfe zum Verstehen der Vater-unser-Bitten. Da zunehmend der Hintergrund eines jeden Gebetes – das Glaubenswissen – verdunstet, das Gebet aber immer in den Rahmen des Glaubens eingebettet ist, begreifen wir manchmal auch dann die Bedeutung der Gebetsbitten nur schwer, wenn wir die Worte verstehen. Es lohnt sich also, eine eigene Katechese zum Vaterunser zu schreiben.
Und führe uns nicht in Versuchung…
Manchmal taucht ganz unvermittelt eine Diskussion zu kirchlichen Themen auf, die sogar von den profanen Medien aufgenommen wird. Welche großartige Chance, vom Glauben zu reden! – ist doch das Interesse an religiösen Themen ansonsten eher gering.
So kam 2017 die Frage auf, wie die Vaterunser-Bitte »…und führe und nicht in Versuchung« korrekt übersetzt werden müsse. Ausgehend von einer neuen Übersetzung im Französischen, wurden (auch von Papst Franziskus) die unterschiedlichen Akzente zum Beispiel in der (klassischen) deutschen Übersetzung und der (geglätteten) spanischen Übertragung gegeneinander gehalten. Es ging um die Frage, ob Gott die Menschen gelegentlich aktiv in Versuchung führt und wir deshalb darum bitten sollte, dass er dies lieber nicht tun solle. Oder ob Gott niemanden in Versuchung führt, und es deshalb besser heißen solle, er möge uns in der Versuchung nicht verlassen. (Die italienische Übersetzung ist mittlerweile dahingehend geändert worden und bittet jetzt nicht um Bewahrung vor, sondern Beistand in der Versuchung.)
Das Wesen des Bittgebetes
Wenn wir einem Menschen gegenüber eine Bitte äußern, so ist das etwas gänzlich anderes, als wenn wir Gott gegenüber ein Bittgebet formulieren. Einen Menschen müssen wir unter Umständen über unser Bedürfnis informieren (»Mama, ich habe Hunger!«) oder ihn durch unsere Bitte dazu bewegen, auf mich zu achten (»Bitte, hör doch auf meinen Magen!«) oder von seinem ursprünglichen Plan abzusehen und dann doch auf unsere Bitte einzugehen (»Bitte, gib mir doch etwas zu essen; danach kannst Du immer noch Deine Ziele verfolgen!«). Alle diese Motivationen verbieten sich selbstverständlich für das Gebet, das sich an Gott richtet: Er weiß bereits, dass wir ein Bedürfnis haben (Mt 6,8: »…denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.«), wir müssen Ihn auch nicht durch unser Gebet bewegen oder von Seinen ursprünglichen (bösen?) Plänen abbringen.
Deshalb führt es in die Irre, wenn wir einer jeden Bitte unterstellen, sie ginge von einem jeweils gegensätzlichem Gedanken aus. Wir bitten Gott nicht, uns von dem Bösen zu erlösen, weil er es sonst nicht tun würde. Wir bitten nicht um das tägliche Brot, weil Gott unseren Hunger vielleicht vergessen oder übersehen würde. Wir bitten auch nicht um die Vergebung der Schuld, weil Gott sie uns ohne unsere Bitte belassen würde. Und wir bitten auch nicht darum, dass Gott uns nicht in Versuchung führt, weil das sein ursprünglicher Plan gewesen wäre. Ein solches Verständnis von Bittgebet ist ebenso absurd wie das dahinter liegende Gottesbild.
Vielmehr hat Jesus uns das Vaterunser-Gebet gelehrt, weil er uns zeigen wollte, worum wir »in rechter Weise bitten sollen« (Röm 8,26). Es geht also auch beim Bittgebet um uns. Wir sollen uns durch unser Gebet ändern – nicht wir ändern Gott oder sein Verhalten. In der Bergpredigt, in der Jesus (Matthäus zufolge) uns das Vaterunser beten lehrt, steht der veränderte Mensch im Zentrum der Predigt. Wir sollen uns und unser Verhalten überdenken und ändern. Wenn Jesus also sagt: »So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name…« dann nicht als Gebrauchsanweisung, um Gott effektiv in Bewegung zu setzen, sondern zur Selbst- und Neu-Ausrichtung des glaubenden Menschen.
Aber, so stellt sich die Frage: Warum lehrt uns Jesus dann darum zu beten, nicht in Versuchung geführt zu werden? Käme denn überhaupt jemand auf diesen absurden Gedanken?
Die Versuchung der Versuchung
Es mag ein wenig überraschend klingen. Aber sich in der Versuchung zu bewähren, kann selbst eine Versuchung sein. Es liegt in der Natur des Menschen, sich und seine Erkenntnis und Beziehungen der Erprobung auszusetzen.
- Jemand, der sich in einer Diskussion befindet und ein neues Argument entwickelt, brennt darauf, es zu erproben: Trägt es? Klärt es den Konflikt? Hält es anderen Argumenten gegenüber stand? – Und so erwartet er sehnlichst den nächsten Streit.
- Ein Forscher, der ein Ergebnis eines Experimentes zur Untermauerung seiner eigenen Theorie entdeckt, kann es oft kaum abwarten, diese Entdeckung der Forschergemeinde vorzustellen und zur Diskussion zu stellen. Es soll, ja es muss geprüft werden: Stützt es wirklich die Theorie? Lässt es sich wiederholen? Ist das Ergebnis wirklich aussagekräftig? Können Einwände entkräftet werden?
- Jemand, der eine Liebesbeziehung geschenkt bekommt, möchte zeigen, wozu er bereit ist. Die Sehnsucht, sich gegen alle Umstände für den Partner einzusetzen und sogar Leib, Besitz und Leben zu riskieren und dem oder der Geliebten (und auch aller Welt) die eigene Liebe zu beweisen, ist der Grund aller romantischen Literatur. Diese Sehnsucht kann sogar soweit gehen, dass widrige Umstände geradezu gesucht werden, um sich gegen sie zu behaupten: Ein Phänomen nicht nur in der Pubertät.
Das gilt auch für die religiöse Überzeugung – in jeder der vorgenannten Hinsichten. Sowohl Argumente für den Glauben, die eigene gläubige Weltsicht als auch die liebevolle Beziehung zum menschgewordenen Gott drängen dazu, sich der Probe auszusetzen. In Zeiten der frühen Christenverfolgungen haben sich ganze Dörfer frisch bekehrter Christen aufgemacht, um in den Städten den Christenverfolgern zu begegnen (siehe J. H. Newman, »Callista«).
So sollt ihr beten: Führe uns nicht in Versuchung!
In diese historische und allgemeingültige Wirklichkeit hinein spricht Jesus also davon, nicht um Versuchung zu bitten. Vielmehr sollt ihr beten: »und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!« Die Weise der christlichen Existenz ist nicht die Konfrontation mit den Widerständen und die Bestätigung der eigenen Größe (der Argumente – der Weltsicht – der Gottesbeziehung). Sucht nicht die Probe Eurer Argumente (»Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben, was ihr sagen sollt.« Mt 10,19); sucht überhaupt nicht die Versuchung! Bittet vielmehr darum, dass Ihr erlöst werdet. Das soll der Inhalt Eures Gebetes sein!
Klärung des Inhaltes oder Klärung der Übersetzung?
Nun haben natürlich diejenigen recht, die darauf hinweisen, dass alles dies den Hörern und Betern des Vaterunsers nicht immer klar ist. Moderne Menschen hören bei dieser Vaterunser-Bitte heraus, Gott möge uns nicht zum Bösen verführen; so mancher Beter wird diese Bitte vielleicht als Abwehr vor bösen und verführerischen Tendenzen Gottes verstehen. Aber die Frage, ob das nicht Grund genug sei, die Bitte treffender zu übersetzen, führt dennoch in die Irre. Eine Neu-Übersetzung der Bitte mag das Missverständnis, wir wollten Gott mit unsere Bitte davor bewahren, Böses zu tun, zwar umgehen. Ausgeräumt ist dieser Gedanken dadurch ja noch lange nicht; noch weniger wird die Gelegenheit genutzt, ein grundlegende Kurzkatechese zum Gebet zu formulieren. Genau das aber ist die Chance aller »Stolpersteine« unseres Glaubens (wie z.B. auch das »pro multis« im Hochgebet): Wir können auf Fragen hoffen, deren Antwort erwartet wird. Ein kostbares Gut in heutiger Zeit; denn allzuoft wird Falsches ungefragt geglaubt und Gutes fraglos verworfen.
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