Eine Vaterunser-Katechese
Ein Gebet ist eine geistliche Begegnung mit Gott, den Heiligen oder unseren Verstorbenen. Zum geistlichem Erleben und zur Erbauung lässt sich dazu unendlich viel schreiben – und so gibt es auch eine unüberschaubare Literatur zum Gebet. Auch zum «Gebet des Herrn», dem Vaterunser.
Gerade weil dieses Gebet aber 2000 Jahre alt ist und selbst in der Übersetzung eine alte Sprache verwendet, bedarf es zur geistlichen Erschließung auch ein Hilfe zum Verstehen der Vater-unser-Bitten. Da zunehmend der Hintergrund eines jeden Gebetes – das Glaubenswissen – verdunstet, das Gebet aber immer in den Rahmen des Glaubens eingebettet ist, begreifen wir manchmal auch dann die Bedeutung der Gebetsbitten nur schwer, wenn wir die Worte verstehen. Es lohnt sich also, eine eigene Katechese zum Vaterunser zu schreiben.
Vater…
Obwohl Gott nicht nur Vater ist, sondern auch noch Sohn und Geist, sprechen wir (nicht nur) im Vaterunser allein den Vater an. Das führt gelegentlich zu Verwirrungen, so als ob Gott mit dem Vater identisch sei. Grund für dieses Missverständnis ist die ungewohnte Lehre von der Dreifaltigkeit.
Jesus – Gott – Vater – Heiliger Geist: Wer ist wer?
So liefert die unterschiedliche Bezeichnung Gott, Vater, Jesus, Sohn und Kinder Gottes schon seit Anfang der Christenheit Verwirrung: »Wenn Gott ein Vatergott ist, und wir seine Kinder – wer ist dann Jesus?« Vor allem der gutgemeinte Gedanke, dass alle Menschen Kinder Gottes seien – und Gott eben ein väterlicher Gott ist, setzt Jesus nun wirklich zwischen alle Stühle: »Wenn Jesus Gott ist, ist er dann auch ein Vater?« »Wenn Jesus der Sohn Gottes ist – dann ist er doch auch nur ein Kind Gottes, so wie wir Menschen alle.« – »Vielleicht ist er ein privilegierter Sohn? Dann ist er also auch ein privilegierter Mensch«. – »Ist mit Jesus am Kreuz auch Gott gestorben« – Verwirrend. Wie gesagt.
Der allgemeine Fehler, der uns Christen allerdings sprachlich auch immer wieder unterläuft, ist, die Väterlichkeit als eine Eigenschaft Gottes anzunehmen. »Das erste, was von Gott im Credo ausgesagt wird, ist seine Väterlichkeit« heißt es manchmal sogar. Wir haben also einen Gott, und dieser eine Gott ist eben ein väterlicher Typ.
So weit, so falsch.
Kein Wunder, dass da keiner mehr durchblickt, wenn schon die Voraussetzungen so falsch gesetzt sind. Tatsächlich ist die »Väterlichkeit« keine Eigenschaft. Sondern Gott ist »Vater«! Eben in Person, nicht nur in Funktion. Gott ist in sich Vater – aber nicht identisch damit, denn er ist auch noch der Sohn und der Geist.
Wenn wir also von dem Gott der Christen reden, dann dürfen wir ihn nicht allein mit dem Vater identifizieren, denn der Gott der Christen beinhaltet eben die Person des Vater und des Sohnes und auch die des Heiligen Geistes.
»Vater« zu sein, ist also nicht eine Eigenschaft des christlichen Gottes, sondern eine Person – neben den anderen, Sohn und Geist.
Gott ist familiär
Wir sollten also im gleichen Maße wie von »Gott, dem Vater« auch von »Gott, dem Sohn« und »Gott, dem Heiligen Geist« sprechen. Mal ehrlich: Das fällt uns schwer. Wir haben den Vater so sehr mit dem ganzen Wesen Gottes identifiziert, dass wir bei dessen Erwähnung immer sofort ein abgeschlossenen Bild von Gott vor Augen haben – und Jesus ist dann irgendwie draußen vor.
Besser wäre es, wenn wir – solange wir Gott in seinem Wesen beschreiben wollen – nicht vom »Vater« sprechen. Sondern vom »familiären Gott«, oder – noch besser – vom »liebevollen Gott«. Denn Gott ist in sich ein familiäres, lebendiges und liebevolles Geschehen.
Insider-wissen
Nun mag die Korrektur unserer Gottesanrede mit »Vater« zwar theologisch gerechtfertigt sein, aber Jesus hat uns eben ein anderes Gebet gelehrt. »Wenn ihr betet, dann sprecht: Unser Vater« – und in der Kirche gilt: »lex orandi, lex credendi« – was wir beten, das glauben wir auch.
Auch das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. In Wirklichkeit waren das bisher Gesagte nur teilweise richtig: Solange wir über unseren Glauben sprechen und dabei zu Nicht-Christen reden, ist es wichtig, Gott nicht ausschließlich mit dem Vater zu identifizieren, sondern den Sohn und den Geist mitzuerwähnen.
Aber für unsere christliche Existenz rückt der Vater in das Zentrum des Gebetes und der Liturgie (das Hochgebet in der Hl. Messe ist beispielsweise ausschließlich an den Vater gerichtet). Aus einem einfachen Grund: Wir treten in die göttliche Familie – in die Dreifaltigkeit – ein, indem wir den Platz des Sohnes einnehmen.
In der Taufe werden wir »Kinder Gottes«, so wie Jesus der Sohn Gottes ist. Also nicht nur im übertragenen Sinne, so wie wir auch von den «Kindern der Revolution» sprechen. Wir werden auf den Tod und die Auferstehung Jesu getauft und damit »Christus gleichgestaltet«. Wir sind jetzt also der Sohn und Kinder Gottes wie Jesus der Sohn Gottes ist. Nun können wir – wie Jesus – zum Vater reden; denn wir sind jetzt selbst »Söhne«.
An dieser Stelle ist es sinnvoll, einen kleinen Ausflug in die Reform der »inklusiven Sprache« zu machen. In den letzten Jahren wurden viele liturgische Texte daraufhin untersucht und korrigiert, ob sie nur männliche Adressaten haben (indem wir z. B. immer nur von den »Brüdern« sprechen und dabei die »Schwestern« vergessen).
Was für »Brüder und Schwestern« richtig sein mag, lässt sich nicht so ohne weiteres auf die »Söhne und Töchter« Gottes übertragen. Denn wir sind zunächst Kinder Gottes durch den Sohn Jesus Christus; wir treten an Seine Stelle und werden Ihm gleich – egal, ob wir Männer oder Frauen sind.
Wenn wir also das (zugegebenermaßen augenfällige) Ärgernis belassen, von uns als den »Söhnen Gottes« zu sprechen (auch, wenn wir die Frauen mit-meinen), erinnert uns das daran, dass wir alleine durch Christus und durch die Taufe auf ihn in die Dreifaltigkeit aufgenommen worden sind.
Hier schließt sich auch der Bogen zur Katechese über die Taufe und Eucharistie: Durch die Taufe wurden wir wie Christus, durch die Eucharistie bleiben wir es: Teil der Dreifaltigkeit, Kinder des Vaters.
Für die »Außenansicht« ist es also wichtig, von Gott nicht nur als Vater zu sprechen. Für unsere christliche »Innenansicht« ist es dagegen gerade die besondere Gnade, Gott »Vater« nennen zu dürfen. (Siehe die Katechese der Karl-Leisner-Jugend zur Dreifaltigkeit)
… unser …
Bei Lukas fehlt der Zusatz „unser“. Manche Theologen denken, dass die erweiterte Version bei Matthäus eine spätere Variante ist und schon die Praxis der Gemeinde widerspiegelt, das Vaterunser gemeinsam zu beten. Wir dürfen aber auch ruhig davon ausgehen, dass Jesus diesen Brauch mit im Blick gehabt hat («so sollt ihr beten»). So oder so wird dadurch deutlich, dass das Vaterunser das Gebet der Kirche ist – und wir auch durch das Beten dieses Gebetes Kirche werden.
In der reformierten Kirche werden übrigens die ersten beiden Worte umgestellt: «Unser Vater…», in der Neu-apostolischen Kirche auch noch die Worte der ersten Bitte «Dein Name werde geheiligt.»
Manchmal habe ich Priester gehört, die das Vaterunser mit den Wort eingeleitet haben: «So lasst uns beten, wie auch Jesus selbst gebetet hat…:». Das ist natürlich so nicht richtig; Jesus bittet beispielsweise nicht um die Vergebung seiner Schuld (da er, wie es auch in der Bibel heißt, ohne Sünden gewesen ist – Hebr 4,15). Vor allem übersieht diese Einleitung, dass Jesus als wahrer, einziger und einzigartiger Sohn auf andere Weise mit dem Vater verbunden ist als wir es sind.
An anderer Stelle unterscheidet er ausdrücklich zwischen meinem Vater und eurem Vater («Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.» – Johannes 20,17).
Das «unser» vereint uns also erst einmal untereinander. Dennoch ist es der gleiche Vater und der gleiche Gott, der uns und Jesus im Himmel zugetan ist. Somit verbindet das Vaterunser uns auch mit Christus, obwohl dessen Vater-Beziehung eine wesentlich andere ist.
… im Himmel
Auch dieser Zusatz «…im Himmel» (oder wie es in früheren Übersetzungen korrekt hieß: «der du bist im Himmel») findet sich nur bei Matthäus. Zum einen wird dadurch die Jenseitigkeit Gottes betont (er ist nicht in den Dingen, Bildern und Götzen zu finden); gleichzeitig bedeutet Himmel aber die auch die Gemeinschaft von Gott und Mensch. Gott ist also nicht Teil dieser Welt, wir aber sollen Teil der göttlichen Dreifaltigkeit werden.
Interessanterweise wird im Lateinischen vom «Vater in den Himmeln» (Plural!) gesprochen, aber in der Bitte «wie im Himmel so auf Erden» ist der Himmel nun im Singular. Im Französischen findet sich dieser Unterschied auch in der Übersetzung, während es im Deutschen (und z. B. auch im Englischen) beide Male «der Himmel» heißt.
Damit ist wohl angedeutet, dass Gott, der einem mythologischem Bild nach im «letzten der sieben Himmeln» wohnt, in seinem Wesen uns entzogen bleibt. Aber durch Sein und unser Wirken soll Erde und Himmel einander gleichgestaltet werden («Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden»).
«Vater unser im Himmel» ist somit in vier Worten zusammengefasst der Kern des christlichen Glaubens: Weil wir eins mit Christus werden, dürfen wir mit ihm zusammen Teil der Dreifaltigkeit werden. Der jenseitige Gott öffnet sich, um uns in sich aufzunehmen. Das nennen wir Himmel.
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