Mit diesem plakativen Satz meine ich nicht die durchaus richtige Erkenntnis, dass der Anzahl der Berufungen im gleichen Maß abgenommen hat wie die Anzahl der Gottesdienstbesucher. «Wir haben keinen Priestermangel, sondern einen Gläubigenmangel» ist sicherlich ein bedenkenswerter Satz. Aber ganz unabhängig davon gilt trotzdem: Wir haben keinen Priestermangel, weil uns das, was ein Priester zutiefst ist, gar nicht fehlt.
Wir wünschen uns mehr nicht-priesterliche Priester
Es ist seltsam. Wir reden vom Priestermangel und fordern deshalb die Senkung von Hürden auf dem Weg zur Priesterweihe (wie zum Beispiel die Abschaffung des Zölibates und die Weihe von verheirateten «viri probati»), und gleichzeitig finden wir die Priester ganz besonders sympathisch, die sich nicht so priesterlich geben. Die «normal» sind und «menschlich». Jemand wie «du und ich».
Das mag sich vor einiger Zeit nur gegen die Allüren besonders herrschaftlicher Vertreter des Priesteramtes gerichtet haben – mittlerweile ist es Programm geworden. Einem Priester, der seine Hauptaufgabe in der Feier der Eucharistie und dem Sakrament der Versöhnung sieht, begegnen wir mit Skepsis. Dem Priester, der mit uns auch mal eine Maitour macht und mit uns in der Fußgängerzone ein Schwätzchen hält, loben wir dagegen.
Seltsam: Wird denn der Priester dafür geweiht, dass er einer von uns ist? Können wir nicht mit jedem anderen Menschen genauso gut die Maitour und das Gespräch beim Shopping führen?
Priester – Seelsorger – Kümmerer
Wir kommen diesem seltsamen Werte-Verschiebungen auf die Spur, indem wir den zwei Begriffen «sicher kümmernde Seelsorger» und «priesterliche Seelsorger» (oder Kurz: Seelsorger und Priester) auf den Grund gehen.
Tatsächlich wurde über lange Jahre hinweg jeder Priesters als «Seelsorger» bezeichnet, wobei der Begriff «Seelsorger» auf das Amt des Priester beschränkt war. Bis heute versteht das Kirchenrecht unter «Seelsorger» nur den Priester.
Nun, Begriffe wandeln sich und dürfen das auch. Es ist nicht schlimm, wenn nun unter Seelsorge nicht die Spendung von Sakramenten verstanden wird, sondern die menschliche Zugewandtheit. Als Seelsorger bezeichnen wir mittlerweile nicht nur die pastoralen Mitarbeiter in der Gemeinde (Pastoral- oder Gemeindereferenten und -tinnen, sondern auch geistliche Begleiter von Vereinen im BDKJ oder der kfd, Kolping und der KAB), auch Psychologen, Sozialarbeiter, Pädagogen und zahlreiche andere Berufe – selbst wenn sie nichts mehr mit Kirche, Religion und Glauben zu tun haben. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie kümmern sich um das seelische, leibliche und ganzheitliche Wohl anderer Menschen.
Wie gesagt: Das will ich nicht beklagen, die Entwicklung hat nunmal stattgefunden. Das Problem entsteht nun dadurch, dass das «Kümmern» als Kern der Seelsorge auch gleichzeitig zum Wesenskern des Priesters proklamiert worden ist. Nur ein Priester, der sich wirklich kümmert, ist ein guter Priester. Mag er auch Predigt, Sakramentenspendung und Feier der Eucharistie vernachlässigen – wenn er sich im Kümmern um die Menschen aufreibt, wird er vielleicht sogar zum «wahrhaft vorbildlichen Priester» erklärt.
Besonders pointiert hat es ein Schuldirektor formuliert, der mir vorwarf: «Sie betreiben ja so gut wie keine Seelsorge an unserer Schule, sie feiern ja bloß die Messe mit den Schülern.»
Ist denn die bloße Spendung von Sakramenten und die Verkündigung in Predigt und Katechese echte Seelsorge? Das können sich heutige Christen kaum vorstellen. Aber dennoch gilt: Ja, ein «bloß sakramental wirkender» Priester ist ein Seelsorger. Eben ein priesterlicher Seelsorger.
Das heißt nicht, dass die «priesterliche Seelsorge» besser ist als die «kümmernde Seelsorge». Sie ist nicht besser und nicht schlechter. Sie ist anders: Der Priester ermöglicht mit der Spendung der christlichen Gnadengaben in den Sakramenten überhaupt erst den wahren kümmernden Einsatz eines jeden Christen! Die priesterliche Seelsorge ist – wenn man den Begriff des Seelsorgers im modernen Sinne verwenden will – eine Seelsorge an den Seelsorgern.
Mangel und Überfluss
Jetzt erklärt sich auch, warum ich der Meinung bin, dass wir keinen Priestermangel haben. Weil die Gemeinden, die sich so sehr nach einen eigenen Pfarrer. Kaplan oder Pastor sehnen, gar nicht den «priesterlichen Seelsorger» wünschen, der fortan jeden Tag im Beichtstuhl sitzt und auf die bußfertigen Sünder wartet. Die Gemeinden sehnen sich nach «Kümmerern». Nicht nach Priestern im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern nach Seelsorgern im neuen Sinne des Wortes.
Ein «Mangel» setzt einen Bedarf voraus. Ein echter Bedarf nach priesterlichem Wirken ist zwar noch an vielen Orten vorhanden. Dafür sind -gottseidank!- immer noch ausreichend Priester in Deutschland tätig (und werden in diesem Sinne tatkräftig von Priester der Weltkirche unterstützt). Nur: In vielen Gemeinden werden solche Priester, die sich als «priesterliche Seelsorger» verstehen, gar nicht gern gesehen.
Nun könnte man meinen, dass in jeder Gemeinde genügend Laien als «Kümmerer» engagiert sind und deshalb auch kein Mangel an «kümmernden Seelsogern» beklagt werden kann. Das Gegenteil ist der Fall.
Wie das?
Nun, ich habe drei Theorien.
1 Die erste stammt nicht von mir, sondern aus dem Hollywoodfilm «Glauben ist alles». Ein katholische Priester sagt zu Beginn zu einem jüdischen Rabbi: «Wir wissen doch alle, dass die Katholiken erwarten, dass ihre Priester die Art von Menschen sind, für die sie selbst zu sein nicht genügend Disziplin haben». These eins: Die deutschen Gemeinden beklagen einen Mangel an «kümmernden Seelsorgern», weil diese dann hauptamtlich tun sollen, was sie selbst nicht schaffen (oder wollen).
Im Gespräch erzählte mir eine evangelische Pfarrerin, dass sie kaum den Kranken- und Altenbesuchen hinterherkommt. Als ich fragte, ob das denn nicht die Aufgabe der Angehörigen und der ganzen Gemeinde sei, meinte sie seufzend, dass diese sich nicht darum kümmern – «und wenn ich es nicht tu, dann besucht sie keiner.» – Das ist traurig für eine Kirche, in der das allgemeine Priestertum so hoch gehalten wird und dann doch wieder bezahlte Kräfte das tun, was die Liebe uns allen befiehlt! – Leider ist das in der katholischen Kirche oft nicht anders.
2 Die zweite Theorie unterstellt, dass die Gemeinden, die nach «mehr Priestern» verlangen (und dabei nur die Kümmerer wünschen), gar nicht ein Verlangen nach zum Priester geweihten Personen haben – sondern nach der Weihe. Mit anderen Worten: Sie wünschen sich nicht mehr Kandidaten für die Weihe, sondern mehr Weihen für die bereits in der Gemeinde Tätigen. Eine Weihe – so glauben viele – sei so etwas wie eine Anerkennung, eine offizielle Bestätigung und Identifkation für die bislang ehrenamtlich Engagierten. Wer ihnen die Weihe vorenthalte, der verkleinere ihren Dienst. Wenn nun von einem Priestermangel gesprochen wird, wird oft damit der Vorschlag verbunden, doch die Weihe auch denen zu spenden, die sich bereits einsetzen.
«Warum soll nicht der Besuchsdienst im Krankenhaus auch die Krankensalbung spenden?» – «Warum darf nicht die Pastoralreferentin, die die Kinder auf die Erstkommunion vorbereitet hat, auch die Eucharistie mit ihnen feiern?» – «Wäre es denn nicht sinnvoll, Beratern und geistlichen Begleitern die Beichtvollmacht zu geben, auch wenn sie keine Priester sind?»
3 Und eine dritte Theorie habe ich im Hinterkopf. Sie hängt mit der berechtigten Frage zusammen, warum die «geweihten Kümmerer» die antiquierten Zulassungsbedingungen erfüllen sollen, die immer noch für Priester gelten?
Zugangsbedingungen
Tatsächlich sind die Zulassungsbedingungen, die für das Priesteramt gelten, vollkommen sinnlos, wenn Priester nur «sich kümmernde Seelsorger» sind. Warum sollte ein Pfleger im Krankenhaus besser pflegen, wenn er unverheiratet ist? Oder ein geistlicher Begleiter ein tieferes Gebetsleben führen und vermitteln, wenn er ein Mann ist? Das ist selbstverständlich Nonsens und gehört abgeschafft.
Aber man braucht die strengen Zulassungsbedingungen für sich kümmernde Seelsorger nicht zu verändern, denn für diese gilt weder das Zölibat noch die Beschränkung auf ein Geschlecht. Kümmerer kann jeder werden – ja, soll sogar jeder sein. Das Sakrament, das jeden Kümmerer befähigt und sogar zur Gotteserfahrung werden lassen kann, ist die Taufe (abgerundet durch die Firmung und am Leben erhalten durch die Eucharistie).
Neben dem Leben aus den grundlegenden Sakramenten und dem Leben mit der Kirche in Gebet, Fasten und Feiern im Jahreskreis bedarf ein echter, christlicher Kümmerer nur noch der Liebe. Und einer Idee, zu welcher Form des besonderen Kümmerns er berufen ist. Alle anderen Ansprüche (wie zum Beispiel verheiratet oder unverheiratet zu sein), spielen keine Rolle.
Ein Priester, der zur besonderen (nicht besseren!) Seelsorge des Priester befähigt werden soll, muss dagegen ganz andere Voraussetzungen erfüllen. Natürlich auch die der Liebe – des Lebens aus den Sakramenten und mit der Kirche. Aber eben auch noch die Darstellung dessen, was er in der Eucharistie feiert, durch seine ganze Existenz. Der Priester, der in der Messe «dies ist mein Leib – dies ist mein Blut – hingegeben für Euch» sagt, soll dies auch mit seiner Existenz repräsentieren. Nicht das «Kümmern» Gottes, sondern die Hingabe des göttlichen Bräutigams für seine menschliche Braut.
Der klassische Fehler der rekursiven Veränderung
Die gewollte und bemühte Abwandlung des Priesterbildes, um dann die überlieferten Vorstellungen als antiquiert zu bezeichnen, ist nicht auf das Priesteramt beschränkt. Immer wieder gehen eigentliche Bestimmungen und Inhalte verloren, und mit der Neudeutung gehen oft neue Forderungen einher, die das ursprüngliche Ziel verhindern.
Ein erstes Beispiel nennt C.S.Lewis: Früher war ein «Gentleman» nichts anderes als jemand, der ein Wappen auf seinem Schild tragen durfte. Selbstverständlich war man zusätzlich der Ansicht, dass sich ein solcher «Wappenträger» auch entsprechend benehmen sollte – eben wir ein würdiger «Träger eine Wappens», ein Gentleman. Doch der Begriff verselb ständigte sich, und irgendwann galt nur der als ein «wahrer Gentleman», der sich entsprechend benahm – ganz unabhängig von der Frage, ob er denn auch ein eigenes Wappen hätte.
Ähnlich erging es dem Adjektiv «christlich». Eigentlich ist ein christllicher Mensch jemand, der an Jesus Christus als Gottes Sohn glaubt – und natürlich sollte sich ein Nachfolger Christi auch entsprechend verhalten. Wenn ich inzwischen allerdings jemanden, der nicht an Jesus als Gottes Sohn glaubt, als «nicht christlich» bezeichnen würde, bekäme ich Widerspruch: Ist denn nicht jemand, der sich «christlich verhält» (also nett und freundlich und selbstlos) nicht ein besserer Christ als derjenige, der «nur» an Christus glaubt, sich aber weniger so verhält? Ist es also nicht wichtiger für die Kirche, Anleitungen zum «richtigen Verhalten» zu lehren, anstatt eine Lehre über Jesus als Gottes Sohn zu verkünden?
Wenn sich Begriffe mit der Zeit ändern, dann müssen wir oft die Segel dafür streichen – auch die Kirche kann sich dagegen oft nicht wehren. Auch dass Begriffe, die zuerst nur im engen kirchlichen Bereich einen Sinn hatten, «profanisiert» werden und plötzlich im Fußball, in der Technik oder der Soziologie auftauchen, ist nichts Neues. Aber wenn unter Berufung auf die neuen Verwendung eine Veränderung des Ursprungs gefordert, dann stimmt etwas nicht!
Ich bin kein Freund davon, Rüdiger Abramczik als «Flankengott» zu bezeichnen. Aber was soll’s – verhindern kann ich es auch nicht. Aber daraus zu folgern, Fußballkunst sei ein legitimer Grund für eine Heiligsprechung, verkennt die wahren Verhältnisse.
Wenn Marcel Reich-Ranicki als «Literatur-Papst» bezeichnet wurde – nun gut, damit musste er leben. Wenn aber gefolgert wird, Papst Franziskus sei nur dann wirklich ein guter Papst, wenn er auch ein guter Literaturkenner sei, wird es absurd.
So mag auch jeder, der sich um andere kümmert, als «Seelsorger» bezeichnet werden, auch wenn «Seelsorger» früher nur «Priester» meinte. Das Rad der Sprachentwicklung lässt sich einfach nicht zurückdrehen. Aber daraus zu folgern, ein Priester sei nur ein guter Priester, wenn er sich vor allem «kümmert», ist nicht sonderlich einleuchtend.
Priester sind auch Christen
Zuletzt noch eine wichtige Bemerkung: Auch wenn ich kein Freund davon bin, einen guten Priester mit einem guten Kümmerer gleichzusetzen, so betone ich dennoch, dass es sehr wohl wünschenswert ist, dass ein Priester auch ein guter Seelsorger im Sinne des «Kümmerns» sein möge. Das gilt auch für seine menschlichen Eigenschaften: Ein Priester sollte (wie andere Menschen auch) auch ein guter Autofahrer sein (und keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit), er soll auch auf Sauberkeit und gepflegte Erscheinung Wert legen. Aber nur weil ein Priester eine sauberes Auftreten hat und ein guter Rennfahrer ist, ist er noch lange kein guter Priester. Und das gilt für seine christlichen Eigenschaften: Ein Priester sollte (wie andere Christen auch) gerne beten, Theologie studieren, ein geistliches Leben führen und zum Beispiel regelmäßig beichten. Aber jemand, der das gerne und intensiv tut, ist deswegen ein guter Christ – aber nicht unbedingt ein guter Priester.
Was nun wirklich zum Kern des Priester gehört – und was lediglich wünschenswerte Eigenschaften sind – das findest Du in der Katechese der Karl-Leisner-Jugend «Der Priester – das unbekannte Wesen». Oder in zwei sehr guten Aufsätzen von Josef Pieper und Robert Spaemann, die im Buch «Treue Christi – Treue des Priesters» zu finden sind (herausgegeben vom Zentrum für Berufungspastoral der deutschen Bischofskonferenz).
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