In der Diskussion mit Atheisten bringen gläubige Menschen manchmal das Argument, man brauche doch einen Glauben, um moralisch zu handeln: »Woher weißt Du denn, was gut ist, wenn Gott es Dir nicht sagt?« – Oder, auch möglich: »Warum sollte jemand Gutes tun, wenn es keinen ewigen Lohn dafür gibt?«
Diese Frage ist nicht damit zu verwechseln, ob es Gut und Böse geben kann, wenn es keinen Gott gibt. Es geht also nicht um die Existenz, sondern um die Erkennbarkeit von moralischen Werten, Geboten und Imperativen. Brauchen wir eine Offenbarung – einen Gott, der uns Anweisungen gibt? Brauchen wir die Bibel, um gut zu sein?
Atheisten auf ihren fehlenden Glauben und damit auf die fehlende Grundlage der Moral hinzuweisen, ist gut gemeint. Immerhin will man so die Atheisten bekehren. Aber gut gemeint ist in diesem Fall das Gegenteil von gut.
Wie hängen »Moral« und »Glauben« zusammen? Braucht man für eine Moral eine Offenbarung? Die Zehn Gebote? Einen lohnenden und drohenden Gott?
Schauen wir mal ein wenig näher hin.
Moral und Religion: Ein hilfreiches Paar
Es ist eine beliebte Argumentationsfigur, einem bekennenden Atheisten die Frage zu stellen, wie und warum er denn moralisch handeln würde – wenn er doch gar nicht an Gott glaubt. Je nachdem, wie diese Frage gemeint ist, kann das für den Fragesteller ziemlich peinlich enden.
Freiheit: Voraussetzung für Moral
Die erste Frage, die wir stellen müssen, ist: Um überhaupt moralisch handeln zu können, müssen wir eine metaphysische Freiheit besitzen. Wenn wir nicht wirklich frei sind, eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen, haben wir auch keine Wahlmöglichkeit. Dann handeln wir zwangsweise, hormongesteuert oder hirnmechanisch – und brauchen auch keine Moral.
Eine Maschine hat keine Freiheit, weil sie keinen Geist hat. Ein Computer (mag er auch noch so schnell und komplex sein) bleibt Materie. Ich habe noch nie gehört, dass ein Computer ins Gefängnis gekommen ist oder auch nur zu einem Bußgeld verurteilt wurde (von Sozialstunden ganz zu schweigen) – denn ein Computer kann nicht böse sein. Das Gleiche gilt auch für Waffen oder Sprengstoff: Verhaftet wird immer nur der terroristische Besitzer, der Böses damit vorhat – der Sprengstoff selber wird nicht angeklagt.
Selbst Tiere werden – falls sie »bösartig« sein sollten – nicht zur Strafe eingesperrt; sondern lediglich, um die Menschen vor weiterem Schaden zu bewahren.
Aus dem einfachen Grund, weil weder der Revolver, noch die Bombe oder das Unfallauto (und auch nicht das Tier) geistbegabt sind. Wer aber keinen Geist hat, kann auch nichts Anderes tun, als ihm die Naturgesetzlichkeiten vorgeben.
Ein Mensch kann aber auch anders – und gerade das macht seine Geistigkeit aus. Mit anderen Worten: Geist ist die Fähigkeit, zuzustimmen oder abzulehnen. Eben Freiheit.
Ohne Freiheit brauchen wir uns keine Gedanken über Gut und Böse machen – bzw. ohne Freiheit können wir uns keine Gedanken darüber machen. Die Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit, moralisch zu denken und zu handeln.
Freiheit ist aber niemals eine Funktion von Materie; Freiheit ist immer etwas Geistiges. Wenn ein Atheist also gefragt wird, wie er sich denn die Moral erklärt, ohne etwas Geistiges zu akzeptieren, dann hat diese Frage allerdings ihre Berechtigung.
Ohne Freiheit können wir nicht von moralischen Handeln sprechen – nur von »Moral-analogem Verhalten«; wie zum Beispiel, wenn ein »braver Computer« sich dem User nicht weiter widersetzt und dann doch noch die richtigen Ergebnisse ausgibt.
Die Erkenntnis von Gut und Böse
Die nächste Frage, die sich stellt, lautet ungefähr folgendermaßen:
Wenn Gott uns nicht Seine Gebote gegeben hätte und uns immer wieder den rechten Weg weist, wüssten wir dann, was Gut und was Böse ist?
Dahinter steht die Überzeugung, dass wir erst durch die Offenbarung Gottes Gut und Böse unterscheiden können und dies nur anhand der Gebote, die Gott uns gegeben hat.
Tatsächlich ist eine solche Annahme ziemlich unchristlich, zumindest unkatholisch. Denn das würde ja bedeuten, dass wir gar nicht aus eigenem Vermögen moralisch erkennen können, sondern lediglich den Geboten Gottes gehorsam sein müssen. Das lehnen wir strikt ab!
Dem liegt die (protestantische) Deutung der Erbsünde zugrunde, die die Erkenntniskraft des Menschen nicht nur verdunkelt, sondern sogar zerstört habe. Seit dem Sündenfall könne der Mensch nicht mehr selbst Gut und Böse unterscheiden, sondern sei ausschließlich auf Gottes Wort angewiesen. Ob die Gebote Gottes aber einen Sinn haben – und vor allem welchen Sinn sie haben – darf dann der Mensch nicht mehr fragen, weil er es nicht wissen und beurteilen kann.
Das ist gefährlich. Denn dann sind die Gebote keine Richtschnur für das eigene Denken des Menschen, sondern Denkverbote. Und weil wir nicht verstehen, was ein solches Gebot eigentlich schützen soll, dürfen (und können) wir Normen nicht auf unsere Situationen im Sinne des Erfinders anwenden. Weil wir den Sinn des Erfinders niemals begreifen.
Somit sind wir schnell wieder bei den Pharisäern, bei blindem Gehorsam und religiös-totalitären Diktaturen. Nicht gut.
Viele – sehr viele – Menschen glauben, genauso funktioniere Religion: Gott erlasse Gebote, weil er eben ein Gebotsfanatiker ist. Dass jedes der Zehn Gebote (sogar die ersten drei!) keine willkürliche Festlegung Gottes ist, sondern alle einen Sinn haben – ein Gut schützen – und somit dem Menschen gut tun, ist heute leider nur selten bekannt.
Und wenn der Vatikan dann mal wieder eine Norm bekanntgibt, beschweren sich alle, damit würden Denkverbote erlassen – weil sie glauben, der Vatikan denkt nicht, sondern verkündet nur. Aber tatsächlich ist jede Norm (!) vernünftig und gedanklich überprüfbar.
Ja: Die gesamte Moral der Kirche dient einzig und allein dem Glück und Wohl (und Heil) des Menschen. Sogar die gesamte Sexualmoral will nichts anderes, als eine erfüllte Sexualität, die dem Menschen Freude macht. (Wenn Du hier stutzt, dann war es wohl dringend nötig, darauf hinzuweisen. Wenn Du mir nicht glaubst, dann lies einfach mal in unserer Katechese zur Sexualität.)
Nach katholischem Verständnis ist die Erkenntniskraft des Menschen zwar getrübt, aber nicht zerstört. Mit den Geboten Gottes, noch mehr durch die gesamte Offenbarung als »Leuchte« begreifen wir besser das, was wir eigentlich auch ohne die Gebote hätten begreifen können. Denn die Gebote Gottes ergeben sich nicht aus dem unbegreiflichen Ratschluss Gottes, sondern aus ihrem Sinn und Zweck: Sie sollen uns Menschen zum Guten lenken und vor dem Bösen bewahren.
Was aber gut und böse ist, erkennen wir nicht erst durch die Gebote und Gesetze. Gut und Böse sind Begriffe, die wir aus der Wirklichkeit ableiten.
Wir halten fest, dass die grundlegenden Moralvorstellungen nicht erst durch Religion oder Offenbarung gewonnen werden; sondern dass Begriff und Inhalt von Gut und Böse über alle Religionsgrenzen hinweg von allen Menschen erkannt werden können.
Die Motivation, das Gute zu tun
Die dritte Frage im Zusammenhang von Moral und Religion bezieht sich auf die Motivation:
Wenn es keine ewige Belohnung und Bestrafung für mein Handeln gibt, wieso sollte ich dann moralisch handeln? Dann kann ich doch tun, was ich will!
Wiederum kritisieren wir nachdrücklich diese Behauptung; denn jeder Mensch tut sowieso, was er will – auch der religiöse Mensch; sogar der Fundamentalist. Wer Befehlen gehorcht, tut das, weil er gehorchen will. Und wer die Schule schwänzt, um seinen coolen Freunden zu gefallen, tut das ebenfalls, weil er es will – genauso, wie derjenige, der dann doch zur Schule geht, aus Angst vor den Konsequenzen.
Die Moral sagt zunächst nichts über eine Motivation aus, sondern antwortet auf die Frage, was denn nun gut ist. Dabei können wir grundsätzlich voraussetzen, dass jeder Mensch die Absicht hat, gut zu handeln – nur die Erkenntnis, was denn nun wirklich gut ist, geht dann auseinander.
Denn im Begriff »Gut« steckt immer »das, was man tun soll« drin. Wenn ich etwas »besser« finde (im moralischen Sinne), dann heißt es eben auch »das, was man eher tun soll als anderes«. Ob eine Handlung aber gut ist oder nicht (also getan werden soll oder nicht), ergibt sich auch durch die Berücksichtigung der Konsequenzen einer Tat. Dazu zählen sowohl die natürlichen Folgen (also zum Beispiel der erwartete Geldgewinn nach einem Überfall) als auch die gesetzlichen Folgen (die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen). Ob jemand nun auch noch die übernatürlichen Folgen mit in seine Erkenntnis einbezieht (also, ob ich nach dem Überfall unter Umständen mit der ewigen Hölle rechnen muss) ist zwar sinnvoll. Aber auch derjenige, der nicht an übernatürliche Folgen glaubt, handelt bereits moralisch.
Es wäre allerdings fatal zu glauben, dass eine Handlung, die nur gute Folgen hat (z.B. Sonntags Leben retten), durch eine Strafandrohung Gottes zur Tat mit überwiegend schlechten Folgen umgepolt wird (»Du landest in der Hölle, wenn Du Sonntags Leben rettest!«).
Genauso wenig polt Gott eine schlechte Tat (z. B. eine Bombe in einem vollbesetzten Bus zünden) durch Verheißung von ewigen Freuden (»So kommst Du direkt ins Paradies!«) in eine gute Tat um. So etwas tut Gott nicht.
Die übernatürlichen Folgen einer Tat ergeben sich nicht durch Anordnung Gottes, sondern entspringen dem Wesen einer Tat. Wir haben keinen Willkür-Gott. Gott ist gut – im eigentlichen Sinne des Wortes.
Allerdings behaupten Einige (wiederum aus protestantischer Tradition stammend), dass der Mensch in seinem Willen so geschwächt ist, dass die Verheißung der natürlichen Folgen ihn nicht mehr zum Guten bewegen kann. Er brauche die angedrohte Höllenstrafe.
Auch hier steht das (fundamentalistische) Konzept der zerstörten Willenskraft der Erbsünde dem moralischen Handeln im Weg. Die katholische Position dagegen besteht darauf, dass auch der nicht-religiöse Mensch sehr wohl genügend Motivation finden kann, indem er einfach auf Taten und ihre natürlichen Folgen schaut. Allerdings ist es hilfreich (nicht notwendig), wenn Gott ihm diese noch einmal ausdrücklich vor Augen hält. Denn die Willenskraft des Menschen, das Gute zu tun, ist schon geschwächt (aber eben nicht ausgelöscht).
Halten wir zumindest fest, dass wir die nötige Motivation, das erkannte Gute auch wirklich zu tun, nicht erst durch die Religion erhalten.
Moral und Gnade
Wenn wir zwar zur Wahrung der Freiheit des Menschen einen geistigen Schöpfer der Seele voraussetzen müssen, aber weder für die Erkenntnis des Guten noch für die nötige Motivation einen Gott brauchen, haben wir uns zwar vom Fundamentalismus befreit, sind aber schnell beim Deismus.
Der Deismus glaubt, dass es reicht, an einen Schöpfergott zu glauben, der sich nach Erschaffung der Welt zur Ruhe gesetzt hat. Seitdem läuft die Welt wie eine aufgezogene Uhr ohne weiteren Eingriff Gottes ab. (Daher spricht man vom deistischen Gott auch als »Uhrmachergott«).
Ein Blick in die Welt zeigt uns allerdings, dass es zwar theoretisch genügend natürliche Erkenntnismöglichkeiten und Motivationen moralischer Art gibt – diese aber selten ausreichend sind, wenn nicht das Chaos und die absolute Unmoral um sich greifen soll (der Roman »Der Herr der Fliegen« ist ein solches Lehrstück). Wir brauchen Hilfe bei der Erkenntnis. Und wir brauchen Hilfe, um das als gut Erkannte auch zu tun.
Wir sind wieder bei der Ursünde – diesmal aber in der katholischen Version. Denn die Ursünde hat uns zwar nicht absolut verdorben, aber immerhin geschwächt. Und in unserer geschwächten Erkenntniskraft und unserer geschwächten Willenskraft brauchen wir himmlischen Beistand.
Diesen Beistand nennen wir Gnade. Gott greift uns unter die Arme. Er lenkt unseren Geist und stärkt unseren Willen. Ganz dezent und unauffällig (also eine Spezial-Aufgabe für den Heiligen Geist, dem »undercover agent« Gottes).
Dieses Konzept der ausreichend unterstützenden Gnade (gratia cooperans) ist etwas ganz anderes als das fundamentalistische Konzept, in dem Gottes Wirken unsere Erkenntnis nicht unterstützt, sondern ersetzt.
So können wir selbstverständlich Gutes und Richtiges auch in den anderen Religionen und sogar in den atheistischen Lebenswelten finden. Auch dort können die Menschen denken und moralisch handeln. Das klingt zwar selbstverständlich, aber (auch Katholiken) übersehen das gerne (so meinen einige z.B., Harry Potter könne kein gutes Buch sein, weil dort Gott nicht mitspielt).
Wenn wir in anderen Religionen Gutes und Wahres erkennen, geben wir damit aber nicht den Wahrheitsanspruch unseres Glaubens auf. Denn wir bleiben dabei, dass das Gute mit der Gnade und der Offenbarung viel klarer zu erkennen ist – und das Gute mit der Gnade Gottes auch viel leichter gewollt und vollbracht werden kann.
Deshalb ist der christliche Glaube – entgegen dem fundamentalistischen Konzept – nicht in erster Linie ein philosophisches System über Gut und Böse, sondern in erster Linie eine lebendige Begegnung (in den Sakramenten) mit dem, der uns zum Guten befreit und befähigt: Dem guten Gott selbst.
Offenbarung der Wirklichkeit
Entgegen dem fundamentalistischem Konzept, dass es einer Offenbarung der Gebote bedarf, damit wir den Willen Gottes überhaupt erkennen können, vertritt die katholische Kirche einen viel größeren Begriff von Offenbarung: Gott gibt uns keine Anweisungen – er zeigt sich uns selbst.
Mit dem Blick auf den sich offenbarenden Gott erscheint nun auch die gesamte Realität in einem neuen und veränderten Licht. Wir erkennen Zusammenhänge, Bedeutungen und Tiefendimensionen, die uns zuvor verschlossen waren. Nicht nur, weil Gott uns diese »mitteilt«, sondern weil er uns einen Blick darauf werfen lässt.
Deshalb besteht die biblische Offenbarung hauptsächlich aus Geschichten und Erzählungen: »So sieht es aus in einer Welt, in der Gott eine Rolle spielt!«. Die Bibel ist eben kein Sachbuch und keine Reportage. Und das ist gut so.
Mit diesem größeren, geweiteten und tiefergehenden Blick auf die Realität erkennen wir nun ganz andere Rangordnungen von Werten; mit dem Verständnis von Schönheit und Sinn der Schöpfung können wir nun auch unser Verhalten auf eine neue Art daran ausrichten.
Deshalb ist die Offenbarung auch von moralischer Bedeutung für uns. Aber sie ist eben keine Enthüllung von Moral – keine Übermittlung moralischer Anweisungen. Sondern vor allem eine Selbst-Offenbarung Gottes: »Schaut her, so bin ich.«
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