Vieles ist in der Bewertung subjektiv unterschiedlich. Was für einen Ureinwohner Sibiriens heiß ist, ist für einen Afrikaner unter Umständen kalt. Was ich als den Inbegriff der Schönheit bezeichne, findet mein Nachbar schlicht hässlich. So ist das eben: Wir sind alle unterschiedlich und empfinden unterschiedlich.
Das gilt auch für die Rechte, die ein Mensch hat: Manche Rechte oder Möglichkeiten werden als Befreiung gewertet, manche aber auch wieder als Belastung: Das Recht auf freie Berufswahl führt auch zur Qual der Wahl. Je mehr Rechte ein Mensch hat, desto mehr ist er in seiner eigenen Verantwortung gefragt. Und Verantwortung kann belasten. Je weniger Freiheiten ein Mensch hat – je weniger Rechte -, desto bequemer kann sein Leben sein – (ein Grund, warum sich viele in die freiwillige Enge einer Sekte begeben). Normalerweise reagieren wir aber allergisch auf eine solche Einengung durch Vorschriften, Regeln und Gebote – vor allem, wenn wir deren Sinn nicht nachvollziehen können.
Das gilt auch für die Gebote und Regeln, die sich in unserer Gesellschaft finden. Die Tatsache, dass wir in einer rechtsstaatlichen Gesellschaft leben, gibt uns Schutz und garantiert annähernd gleiches Recht für alle – führt aber auch zu zahlreichen Regeln und Vorschriften, die wiederum einengen und unangenehm begrenzen können. Vielleicht – so meinen einige Zeitgenossen – leben wir in einer Zeit, in der es zu viele Regeln gibt: Von der Verordnung über die Herstellung von Karamellbonbons nach EU-Recht bis hin zur Rückwärts-Einpark-Ordnung im Straßenverkehr.
Nun könnte man meinen: Es darf überhaupt keine Gebote und Regeln geben, denn jeder muss ja selbst wissen, was richtig ist und falsch. Keiner darf einem anderen seinen Willen aufzwängen und Vorschriften machen. Was gut und schlecht ist, muss jeder selbst entscheiden.
Das ist aus zwei Gründen nicht richtig. Der erste Grund wird jedem einleuchten: Natürlich kann jeder für sich entscheiden, ob etwas gut oder schlecht für ihn ist. Das ist zunächst eine Frage des Gewissens. Aber in dem Augenblick, in dem er sich danach richtet und danach handelt, betrifft diese persönliche Moral Andere. Und Andere können von dieser persönlichen Moral gar nicht so begeistert sein. Für das Zusammenleben ist es daher sinnvoll, dass man sich zumindest auf grundlegende moralische Ansichten einigt, damit die Einzelnen die größtmögliche Gelegenheit haben, nach eigenem Ermessen richtig (und falsch) zu handeln.
Wenn man aber davon ausgeht, dass alle moralischen Gebote und Regeln letztlich nur ein Kompromiss sind, damit jeder möglichst viel Freiheit in einer Gesellschaft hat, so wäre die Entscheidung darüber, ob etwas gut oder schlecht ist, eine Frage der Abstimmung, eine Frage der Demokratie.
Dann würde eine Gesellschaft eine Tat als Gut oder Böse bezeichnen, obwohl die Tat an sich keine moralische Qualität hat – sie ist es nur in den Augen dieser Gesellschaft. So, wie wir die Farben „blau“ und „rot“ festlegen, obwohl die entsprechende Wellenlänge des Lichts in keinerlei Hinsicht eine solche Festlegung nahelegt – blau und rot gibt es nur für den Menschen, nicht in Wirklichkeit.
Das kann aber wohl nicht sein: Es kann ja wohl kaum in Ordnung sein, wenn die Mehrheit der Deutschen im Dritten Reich abstimmen und den Juden ihr Lebensrecht abspricht…
Daher liegt es auf der Hand, dass „Gut“ und „Böse“ nicht nur Etiketten sind, die eine Gesellschaft nach eigenem Gutdünken verteilt, dass Gut und Böse also nicht nur eine Frage der Festlegung ist – sondern dass es tatsächlich so etwas wie Gut und Böse gibt. Das ist der zweite Grund, weshalb die Frage nach Gut und Böse nicht ins Belieben des Einzelnen gestellt ist: Weil wir auf eine bestimmte Art und Weise geschaffen sind, nennen wir das, was dieser Art und Weise entspricht, „Gut“. Und wenn wir uns gerade gegen unsere Natur verhalten, gegen das, was eigentlich der Sinn der Schöpfung gewesen ist, „Böse“. Das setzt natürlich so etwas wie einen Sinn der Schöpfung und somit auch einen Schöpfer voraus.
Mit einer rein demokratischen Festlegung lässt es sich im Normalfall gut leben. Aber wenn diese in außergewöhnlichen Situationen in Frage gestellt wird (z.B. im Verteidigungsfall oder in wirtschaftlichen Krisen), so fällt sie sehr schnell in sich zusammen. Warum soll man etwas, das man selbst festgelegt hat, nicht verändern? Zumindest dann, wenn es dem allgemeinen Wohl (wenn auch gelegentlich nur dem Wohl des eigenen Volkes) dient?
Das Gewissen
Ein Zeichen dafür, wie sehr das sogenannte Naturgesetz in uns Menschen verankert ist (also nicht allein auf dem gesellschaftlichen Kompromiss beruht), ist unser Gewissen. In unserm Gewissen spüren wir intuitiv, was richtig und was falsch ist. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Kultur wir aufwachsen. Jedem Menschen ist ein Gespür für Gut und Böse ins Herz gelegt.
Das Gewissen, das Gespür für Gut und Böse, muss aber gepflegt werden. In bestimmten Kulturen kann das Gewissen für bestimmte Unrechte besonders empfindlich und wachsam gehalten werden, in anderen Kulturen wird das Gewissen für bestimmte Unrechtshandlungen verbildet. Das Gewissen ist somit zwar ein guter Kompass, aber es kann auch trügen, wenn wir uns nicht darum bemühen, es zu bilden.
Wenn wir aber unser Gewissen wirklich pflegen – d.h. Handlungen, die uns selbstverständlich scheinen, hinterfragen, Positionen, die in der Gesellschaft verbreitet sind, nicht einfach übernehmen -, dann kann unser Gewissen uns zuverlässig den Weg zeigen.
Um das Gewissen zu bilden, helfen Gesetze und Gebote, aber noch wichtiger ist es, das Gute hinter den Geboten zu entdecken – also der Sinn der Gebote. Wenn wir den verinnerlichen, dann brauchen wir die Gebote nicht auswendig lernen, dann haben wir sie im Herzen verstanden.
Jedem Menschen ist ein natürliches Gespür für Gut und Böse ins Herz gelegt. Aber das Gewissen ist keine Quelle religiöser Wahrheiten! Das Gewissen kann nicht darüber entscheiden, ob es einen Gott gibt oder nicht. Ob es aber gut ist, für diesen Gott zu töten (z.B. während der Inquisition oder im Heiligen Krieg), ist durchaus eine Gewissensfrage.
Eine gute Religion hilft dabei, das Gewissen zu bilden, denn eine gute Religion ist in Besitz von Erkenntnissen über den Willen Gottes – der immer gut ist – der uns hilft, selber gut zu leben.
Die Gnade
Eine der größten Gefahren für das Christentum ist aber, es auf eine Sammlung von Geboten zurückzuführen. Unser Glaube hat nicht zum Inhalt: «Wenn Du folgende Regeln beachtest, wird Gott dich mögen und dich bei sich aufnehmen. Also tu was!» Unser Glaube hat vielmehr zum Inhalt: «Gott mag dich und weiß, wie schwer es dir fällt, dich ihm zu nähern. Deshalb hilft er dir, indem er dich stärkt und dir die Kraft gibt, zu ihm zu kommen.»
Der christliche – katholische – Glaube geht davon aus, dass die Christen nicht diejenigen sind, die die Gebote am besten halten können, sondern dass die Christen die Menschen sind, die erkennen, wie sehr sie hinter dem Willen Gottes zurückbleiben, die wissen, dass sie der Hilfe Gottes bedürfen. Christen sind nicht die besseren Menschen, sondern die Menschen, die Gott in Christus um Hilfe bitten.
Wer den christlichen Glauben als Rezept ansieht, als ein Sammlung von Vorschriften, die er beachten muss, um zu Gott zu gelangen, der vergisst das Wichtigste: Dass Gott sich selbst aufmacht, um uns zu helfen. Zu meinen, erst das Halten der Gebote würde mich mit Gott verbinden, ist nicht nur unmenschlich (das schafft keiner), sondern auch als Häresie des Pelagius von der katholischen Kirche verurteilt. Eine solche Lehre ist im doppelten Sinne des Wortes gnadenlos.
Zwar gehören auch konkrete Hinweise dazu, wie wir mit Gott ins Gespräch kommen können. Diese Hinweise, die auch manchmal als Gebote auftauchen, sind aber niemals Vorbedingung für die Gnade, sondern ein Wegweiser. Die Kraft aber, die uns bewegt (die Gnade) kommt allein von Gott.
In einem evangelikalen Büchlein „Roadmap to heaven“ wird ebenfalls betont, dass die Gebote ohne Gnade nicht zum Glück führen. Allerdings driften die evangelikalen Baptisten manchmal in das andere Extrem. So heißt es dort (auf Seite 41):
„Die Bibel sagt, dass niemand durch das Halten der Zehn Gebote in den Himmel kommen wird. Das ist nicht das Ziel der Gebote. Gott gab sie uns, um uns zu zeigen, wie weit wir von Seinem vollkommenen Maßstab entfernt sind“. Die Zehn Gebote sind demnach also nur Hinweis auf unsere schlechte Verfassung – aber kein Heilmittel. Das lehnt die katholische Kirche ebenfalls als Häresie ab: Weder die Gnade allein, noch der Mensch allein. Erst im Zusammenwirken der Gnade Gottes mit dem Bemühen des Menschen entsteht eine himmlische Wirklichkeit.
Deshalb dürfen wir im Christentum nicht aus Geboten Wertmaßstäbe machen: Wer bestimmte Gebote nicht halten kann, ist deshalb noch kein schlechterer Christ. Wer aber die Gebote nicht halten will, oder behauptet, man brauchte sie nicht zu halten, wer also seine Schwäche nicht eingestehen will, der lehnt damit auch die Hilfe Gottes ab.
Wer sich zum Beispiel immer wieder bei einer Lüge ertappt, ist deshalb noch kein schlechter Christ. Sobald er aber behauptet wird, das sei voll in Ordnung so, keiner könne immer die Wahrheit sagen und braucht es deshalb auch nicht, wer also nicht zugeben will, dass er in diesem Punkt schwach ist, der stellt sich außerhalb derer, die gemeinschaftlich den Weg Gottes gehen wollen.
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