Der Grund der Moral

Bevor wir uns dem 6. Gebot zuwenden, möchte ich daran erinnern, was die Grundlage aller christlichen Moral ist. Nicht die Tatsache, dass Gott, Jesus oder die Bibel Normen verkündet, rechtfertigt die Gebote. Eine solche Einstellung nennen wir »positivistisch« (von lateinisch ponere: setzen, stellen, legen): Ein Gebot sei allein dadurch schon gerechtfertigt, weil eine Autorität diese moralische Norm erlassen und festgelegt habe.

Viele – sehr viele – Menschen glauben, genauso würde Religion funktionieren: Gott erlässt Gebote, weil er eben ein Gebotsfanatiker ist. Und diese Gebote werden nicht hinterfragt, weil sie ja von Gott stammen. Dass jedes der Zehn Gebote keine willkürliche Festlegung Gottes ist, sondern alle einen Sinn haben – ein Gut schützen – und somit dem Menschen gut tun, ist heute leider nur selten bekannt.

Wenn »der Vatikan« mal wieder eine Norm in Erinnerung ruft, beschweren sich alle, damit würden Denkverbote erlassen – weil sie glauben, der Vatikan denkt nicht, sondern verkündet nur. Aber tatsächlich ist jede Norm (!) vernünftig und gedanklich überprüfbar.

Es gilt also: Jede christliche Moral hat ihren Grund nicht in der Autorität Gottes, sondern in der Wirklichkeit. Das Gute in unserer Wirklichkeit soll geschützt und bewahrt werden (also eine umfassende »Bewahrung der Schöpfung«). Ja: Die gesamte Moral der Kirche dient einzig und allein dem Glück und Wohl (und Heil) des Menschen. Sogar die gesamte Sexualmoral will nichts anderes, als eine erfüllte Sexualität, die dem Menschen Freude macht.

Kasuistik, Fundamentalismus und Naturrecht

Wer in einem alten Beichtbüchlein (z.B. dem »Jone« von 1914) nachschaut, findet dort eine kaum übersehbare Sammlung von Anweisungen und Bestimmungen – geordnet nach den Zehn Geboten. Aber es ist eben nur eine Sammlung von Vorschriften, keine Erklärung, WARUM es diese Gebote gibt.

Man kann darin ein Versäumnis der Kirche sehen – »Über Jahrhunderte«, so scheint es, »wurden Gebote nur weitergegeben. Alles nur inzwischen verstaubte Tradition.« Aber das wäre ein vorschnelles Urteil – denn die Kirche (und damit meine ich in diesem Fall die Theologen, Priester und Bischöfe) antworten meistens nur auf die Fragen, die an sie gerichtet werden. Lange Zeit war aber alles, was mit Ehe und Sexualität zu tun hatte, im Bewusstsein der Menschen völlig klar und eben nicht fraglich.

Auch heute erhalte ich zahlreiche Anfragen – oft per eMail – ob diese oder jene sexuelle Praxis in Ordnung sei; die fragenden Menschen sind oft gar nicht an einer grundsätzlichen Klärung interessiert, sondern wollen nur Gewissheit, dass sie nicht sündigen. Eine solche Einstellung nennen die Theologen (und Juristen) »Kasuistik«: Für jeden Fall (daher das Wort »Kasuistik« von lat. casus – der Fall) eine eindeutige Handlungsanweisung. Das erspart eigenes Denken und gibt Verantwortung ab.

Die mosaischen Gebote des Alten Testamentes sind eine solche kasuistische Gebots-Sammlung, die allein deshalb befolgt werden sollte, weil sie von Gott stammt.

Wir Christen allerdings halten uns nicht mehr an das mosaische Gesetz; Jesus hat uns Freunde genannt, und nicht Knechte. »Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.« (Joh 15,15) Das ermöglicht uns Christen, Gut und Böse eigenständig zu erkennen, indem wir einen Blick auf die Wirklichkeit richten – und nicht allein auf die erlassenen Vorschriften.

Allerdings sollte man zwischen dem mosaischen Gesetz (dem Gesetz des Mose) und dem göttlichen Gesetz unterscheiden: Das Gesetz Gottes, die Zehn Gebote, ist nicht überholt. Es ist für alle Zeiten gültig.

Das simple Aufstellen von Geboten und Verboten – ohne sie begründen zu müssen – erspart leider auch heute noch eigenes Denken. Angeblich stehen sämtliche Moralvorschriften in der Bibel drin und sind somit ausreichend begründet. »Wenn es Gottes Wille ist …« Mit dieser Begründung rechtfertigen die Zeugen Jehovas die Ablehnung von Bluttransfusionen und die Adventisten die Ablehnung des Sonntags als Feiertag. Weitere Begründungen sind über den Nachweis, dass Gott es doch so angeordnet hat, nicht mehr nötig – und zum Teil auch nicht erwünscht.

Aber solch ein Gottesbild, das Gott als absolutistischen Gesetzgeber sieht, der nur Gehorsam verlangt (ein solches Bild ist in vielen fundamentalistischen Kreisen verbreitet), ist nicht katholisch.

Gott ist anders. Seine Hilfe zu einem erfüllten Leben besteht nicht darin, dass er überall Verbotsschilder aufstellt und Wegmarkierungen anbringt, sondern dass er uns die Augen öffnet und unsere Sinne schärft, damit wir den Weg selber erkennen und Schluchten, Treibsand und Sackgassen vermeiden, weil wir Gefahren verstehen und Gutes erkennen können. Unser Blick sollte sich also nicht allein in die Anweisungen Gottes vertiefen, sondern auf die Wirklichkeit richten. Nicht Auswendiglernen von Geboten, sondern verstehen von Zusammenhängen ist das, was uns wirklich hilft.

Die katholische Sexualmoral: Der Weg zur erfüllten Sexualität

Vor einiger Zeit wurde ich zur Sendung »Sex nach Neun« auf der RBB-Welle Radio Eins zur katholischen Sicht der Sexualität interviewt (inzwischen ist die Sendung abgesetzt worden – aber daran bin ich nicht schuld!). Ich gebe zu, dabei keine allzu gute Figur gemacht zu haben: Ich hatte übersehen, dass mein Beitrag maximal 90 Sekunden dauern durfte – und die waren um, noch bevor ich einen Faden gefunden hatte. Dabei hatte ich mir vorher diesen (meiner Meinung nach schönen) Gedankengang zurechtgelegt:

Bei der katholischen Sexualmoral wird oft nur das gesehen, was verboten ist, aber kaum das, was durch die Verbote geschützt werden soll: Nämlich eine erfüllte Sexualität.

Wie immer muss man sich jedoch klar machen, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, bevor daraus Gebote, Normen und Moral abgeleitet werden. Wer nicht weiß, was Sexualität überhaupt ist, kann weder von einer erfüllten Sexualität sprechen – noch Vorstellungen entwickeln, wie eine solche denn zu erreichen ist. (Erinnert Euch: Moral ergibt sich aus der Wirklichkeit, nicht aus den Geboten und Verboten. Erst muss man also die Wirklichkeit verstehen, um daraus die Gebote abzuleiten!).

In einer Katechese zur Sexualität habe ich entfaltet, dass Sexualität die Sprache der liebenden Beziehung ist. Eine »erfüllte Sexualität« bedeutet also (so, wie eine »erfüllte Sprache«), dass sie mit dem besten Inhalt gefüllt ist – also der Liebe und Hingabe.
Das ergibt sich nicht von alleine, denn jede Sprache (auch die Sexualität) kann auch für Unsinn oder sogar Zerstörung von Beziehung missbraucht werden. Eine Sprache kann auch zum Selbstzweck werden – man redet, weil man Freude am Reden hat; aber ohne wirklich etwas zu sagen. »Smalltalk« nennt man das, so, wie man inhaltsleeren Sex als »Smallsex« bezeichnen könnte.

Natürlich kann auch eine sinnlose Sprache lustig sein und Spass machen (denk zum Beispiel an die geniale Szene des ferngesteuerten Nachrichtensprechers in »Bruce allmächtig«). Aber die Sprache ist dann eben nur noch spaßig – jedoch nicht mehr erfüllt. Und irgendwann wird auch der Spaß langweilig – weil er keine Beziehung mehr zum Inhalt und zur Person hat.

Die katholische Moral will nun dabei helfen, dass aus der genialen Gabe der Sexualität und der sexuellen Lust nicht »Smallsex« wird. Die katholische Sexualmoral hat als Ziel eine erfüllte Sexualtität.

Natürlich ist die katholische Sexualmoral kein Kamasutra für besonders lustvollen Sex. Es geht ihr ja nicht um eine Technik zur Luststeigerung, sondern um die Erfüllung. Wer Sexualität praktiziert, um seine grenzenlose Liebe zu vermitteln, findet die Erfüllung, die derjenige ewig suchen wird, der diese sexuelle Erfüllung lediglich durch technische Anleitung und Lust-Steigerungs-Mittel erzwingen will.

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es kann nicht oft genug gesagt werden: Eine jede Norm der katholischen Sexualmoral will die sexuelle Erfüllung des liebenden Menschen schützen und bewahren; denn diese liegt nicht in der Art und Weise, wie er Sex hat, sondern in dem Sinn, den er durch die Sexualität vermitteln will: Der grenzenlosen Liebe und Selbsthingabe.

Was soll durch das 6. Gebot geschützt werden?

Bevor wir uns nun den einzelnen Gefahren widmen, die eine erfüllte Sexualität bedrohen, müssen wir nun, nach den vorbereitenden Überlegungen, noch die letzte Frage beantworten: Was soll durch das 6. Gebot eigentlich geschützt werden? Nur die Ehe?

Nein, nicht nur die Ehe. Sondern unsere Beziehungsfähigkeit überhaupt. Und damit sind nicht nur die Beziehungen gemeint, die wir von Mensch zu Mensch knüpfen – sondern auch die, die wir zu Gott haben. Alles, worauf es in dieser Welt ankommt, ist eine Frage unserer Fähigkeit, zu lieben.

Wenn wir versuchen, die Sprache des Leibes mit der Sprache der Liebe in Einklang zu bringen, damit wir zu höchster Beziehung zwischen Menschen fähig bleiben – dann strahlt das aus; nach »unten« und nach »oben«.

Nach »unten«: Weil derjenige, der zur höchsten Beziehung (der Ehe) fähig ist, auch die vielen kleineren Beziehungen (Freundschaften, Bekanntschaften, Begegnungen für wenige Augenblicke und Treue über Jahrzehnte) leben kann.

Nach »oben«: Weil derjenige, der zur höchsten Beziehung – der unbedingten Liebe zwischen zwei Menschen – fähig ist, gottähnlich wird. Und – nicht erst irgendwann, sondern schon hier auf Erden – eingeladen wird zum ewigen Hochzeitsmahl … mit der größten Liebe, die es gibt. Gott.

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