Menschen suchen Sinn – nicht nur in den Sätzen, die sie lesen oder hören, nicht nur in den Zeichen im Straßenverkehr und den Symbolen an Türen. Sie suchen den Sinn auch im Alltag, in den Ereignissen – und in den Gedanken, die ihnen so kommen. Das machen alle Menschen, nicht nur an Gott Glaubende.

Allerdings sind sich Atheisten oder Humanisten überraschend einig mit den Christen, die in guter katholischer Tradition stehen: Alle sind davon überzeugt, dass es keinen objektiven Sinn gibt, der «in den Ereignissen selbst» liegt – und dort zuverlässig entdeckt werden kann. Was nicht bedeutet, dass der Christ (im Gegensatz zum Atheisten) von der absoluten Sinnlosigkeit der Welt überzeugt ist. Im Gegenteil: Es gibt einen objektiven Sinn in der Welt: Gott hat die Welt erschaffen, weil er sie liebt. Aus Freude am Sein und dem Seienden. Alle andere «Sinnfindungen» geschehen nicht objektiv feststellbar in den Dingen – sondern in der Art und Weise, wie sie dem einzelnen Menschen begegnen.

Wohlgemerkt: Nicht der Mensch gibt den Dingen einen Sinn, sondern er entdeckt in dem, was geschieht, eine Bedeutung. Wie kann er aber nun sicher sein, dass er sich diese Bedeutung nicht nur einbildet?

Nun, diese Schwierigkeit ist der Kirche von Anfang an bekannt – durch alle Zeiten, bis auf den heutigen Tag. Viele Seelsorger in der Geschichte der Kirche haben in der Hilfe zur richtigen Interpretation eine ihrer Hauptaufgaben gesehen. Es gibt sogar eine eigene Bezeichnung dafür: Die «Unterscheidung der Geister». Denn es geht nicht nur um die Deutung von Ereignissen, sondern auch um die Deutung der eigenen Gedanken.

Wenn ich die plötzliche Eingebung habe, den Raum zu verlassen – ist das ein von Gott geschenkter Impuls? Oder nur meine eigene Zwangsneurose? Es kann gut sein, dass ich bei der Rede eines Diktators spontan aufstehe und dadurch ein Zeichen der Rebellion für andere bin – obwohl ich vielleicht nur frische Luft brauchte. War das Verlangen nach frischer Luft von Gott geschickt?

Oder: Wenn ich nachts Träume habe, die von einer bestimmten Person handeln – verbunden mit unbändiger Angst: Soll ich diese Person dann aufsuchen? Oder meiden? Oder hat das gar nichts zu bedeuten?

Ich sterbe fast vor Hunger, ich bete, und im gleichen Augenblick finde ich eine fremde Geldbörse, prall gefüllt mit Geldscheinen. Ist das ein Geschenk Gottes? Oder eine Prüfung? Eine Versuchung des Teufels?

Die kirchliche «Unterscheidung der Geister» geht überraschend nüchtern vor. Sie fragt nach der psychologischen Verfassung, in der ich mich befinde (bin ich ungeduldig und will jetzt unbedingt ein Zeichen?); sie bedenkt, ob jemand anderes das Zeichen genauso deuten würde (ich könnte meine beste Freundin fragen – oder meinen Beichtvater und geistlichen Begleiter). Zur Unterscheidung der Geister muss ich mich fragen, ob die Handlungen, zu denen ich mich gerufen fühle, moralisch in Ordnung sind. (Wer sich dazu berufen fühlt, Abtreibungskliniken in die Luft zu sprengen, sollte sich selbst in eine Psychiatrie einweisen lassen, anstatt den Beichtvater um Erlaubnis zu fragen).

Diese Unterscheidung ist wiederum nichts typisch Religiöses, sondern urmenschlich. Wir praktizieren sie in jedem Gespräch und in jeder Kommunikation. Wenn ich zum Beispiel die Worte meiner besten Freundin interpretiere, bedenke ich, was ich von ihr weiß. Ich kenne sie – und daher weiß ich, dass ein bestimmter Augenaufschlag kombiniert mit einer Geste nicht bedeutet: «Sofort enthaupten!» Auf diesen Gedanken würde ich niemals kommen – weil er unmoralisch, unvernünftig und unangebracht wäre. Es sei denn, mein Name ist Alice, ich bin im Wunderland und meine beste Freundin ist zufällig die dortige böse Königin.

Letztlich mündet alles in die Frage: Passt die Botschaft, die ich aus bestimmten Ereignissen als die Botschaft Gottes herauslese, wirklich zu Gott? Und zu mir? Oder ist sie unvereinbar mit dem christlichen Gottesbild? Und schädlich (weil sündig) für mich?

Es geht also nicht darum, mit esoterischen Geigerzählern den Gehalt einer übernatürlichen Botschaft live vor Ort zu messen; es geht auch nicht darum, per EEG und supranaturalen Mikrophonen die Realität von eingebildeten inneren Stimmen zu unterscheiden. Es geht schlicht um die Frage, ob die Deutung einer irdischen Realität vernünftig, moralisch und verantwortbar ist.

Die Unterscheidung der Geister und die Erkenntnis, ob Gott nun wirklich zu mir gesprochen hat, lässt sich nicht immer mit der nötigen Gewissheit durchführen. Unklare Botschaften, Zeichen und Hinweise sollten mich aber nicht unter Druck setzen: Wenn Gott mir etwas sagen will, dann hat er genug Mittel, sich unmissverständlich auszudrücken. Solange das nicht geschieht, darf ich die Wirklichkeit ruhig so nehmen, wie sie objektiv ist: Als Zeichen der Liebe Gottes.

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Schlagwörter: , Last modified: 6. Mai 2020