Es ist nicht möglich, das Beziehungsgeschehen zwischen mir und Gott in Gänze aufzuschlüsseln, weshalb schon mein Beten, Bitten und Danken im Grunde ein Geheimnis bleibt – ein Mysterium. Noch schwieriger wird es, wenn wir nun noch eine weitere Person mit hineinnehmen: Jemanden, für den wir beten. Kann es sein, dass das Glück dieser Person davon abhängt, dass ich für ihn bete? Ist der andere dann nicht nur ein Spielball meines Beziehungsgeschehens mit Gott? Kann es wirklich sein, dass jemand sich Gott und damit seinem Glück zuwendet, weil ich für ihn gebetet habe? Oder hat mein Gebet keine Auswirkungen auf andere? Weil die Freiheit jedes Anderen unantastbar ist? Auch für Gott?

Klar: Wir können das genaue Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den unzähligen betenden Menschen nicht einmal im Ansatz nachvollziehen. Aber wir können ein paar Gedanken formulieren.

Gott möchte, dass wir für andere beten

Wenn Gott kein anderes Ziel verfolgt, als die Menschen wieder zurück in ihr Glück zu führen – und dieses Glück in ihren erfüllten Beziehungen zueinander und zu Gott besteht -, dann dürfte es nahliegend sein, dass Gott möchte, dass wir füreinander beten. Es kann ja wohl kaum unseren Beziehungen untereinander förderlich sein, wenn Gott nur Gebete wünscht und zulässt, die jeder für sich selbst formuliert! Also: Es gibt kein schöneres Gebet, als für das Heil eines anderen Menschen zu beten. Weil es so absolut selbstlos ist und gleichzeitig das tiefste Glück für den Anderen wünscht.
Aber kann es sein, dass ein anderer Mensch sein Glück nur deshalb findet, weil ich darum gebetet habe? Heißt das dann nicht im Umkehrschluss, dass unter Umständen ein anderer Mensch sein Glück nur deshalb nicht findet, weil ich noch nicht darum gebetet habe? – Dieser Gedanke widerstrebt uns: So ist Gott nicht. Er nimmt niemanden in Geiselhaft, um uns auf eine höhere Stufe der Spiritualität zu führen.

Es gibt kein schöneres Gebet, als für das Heil eines anderen Menschen zu beten.

Deshalb müssen wir sehr wohl unterscheiden: Ja, Gott lässt mich an Seinem Werben um das Heil eines Anderen teilhaben lässt. Ich darf mit-erlösen! Es ist ein Geschenk zu erfahren, dass Gottes Liebe und meine Zuneigung ein gemeinsames Ziel haben. – Das heißt aber eben im Umkehrschluss nicht, dass das Heil des anderen von mir abhängt! Gott kennt viele Wege, einen Menschen zu umwerben, zu heilen, heimzuholen und zu heiligen. Er ist dabei nicht auf mein Wirken angewiesen (das entlastet mich ungemein!), aber er freut sich über meine Mitwirkung durch mein Tun und mein Beten (das freut dann auch mich!).

Gott lässt mich mitwirken an einem unendlichen Geflecht von Verbindungen natürlicher und übernatürlicher Art, das uns alle in der Freiheit und Liebe wachsen lassen kann. Gott kann das Glück des Einen im Auge behalten ohne das Glück des Anderen aus den Augen zu verlieren. Er kann Beziehungen in der Freude und im Leid zu tragfähigen Beziehungen machen. Und jemanden, der noch nicht beten kann, an der Gebetsfreude des anderen teilhaben lassen. Gott kann! Denn: Bindungen zwängen nicht ein, sondern sind die Erfüllung jeder Freiheit; und wenn Gott uns und unser Gebet miteinander verknüpft, wird unser Glück größer, nicht kleiner.
Dass wir miteinander verbunden sind, wird auch ohne Gott deutlich – allerdings oft auch leidvoll. Gerade im Leid sehen wir zum Teil tragische Verbindungen quer durch die Welt und die Zeit. Was der eine für sein Glück hält, fügt dem anderen Leid zu. Aber das ist unser Wirken, nicht das Wirken Gottes! Wenn Gott Verbindungen zwischen den Menschen stiftet, stärkt und heiligt, dann sind es gute Verbindungen. Verbindungen, die aus dem Leid befreien und nicht in neues Leid stürzen.

Das gilt nicht nur für unser betendes Wirken. Gott möchte auch, dass wir einander helfen, gute Worte sprechen, uns füreinander einsetzen. Das Leid dieser Welt heilt Gott auch durch unser Wirken. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Gott erst Leid wirkt, damit wir dann anschließend Gelegenheit haben, helfende Beziehungen zu knüpfen. Das Leid kommt nicht von Gott. Er ist vielmehr auf der Seite derer, die sich um die Überwindung des Leids bemühen. Und er verbindet unser Bemühen mit Seinem Wirken. Er kann um das Leid herum Heil wirken. Gottes webt mit unserer Beteiligung ein «World Wide Web« der heilenden Beziehungen, das unser Denken, Handeln, Reden und Beten einbezieht! Er ist der große, gute und liebende Webmaster.

Andere spüren, dass wir beten und gebetet haben

Manchmal ist es uns möglich, einen kleinen Teil dieses unendlichen Beziehungsnetzes zu erkennen. Da erfahren wir erst Jahre später, dass jemand schon seit langem für mich betet oder gebetet hat. Und ich erkenne, dass darin der Grund liegen könnte, warum ich mich so von Gott getragen weiß. Vielleicht kann ich das dem Beter zurückmelden; dann wird er umso freudiger und zuversichtlicher weiter beten. Das stärkt ihn – und freut mich!

Es stärkt meine Beziehung zu Gott, wenn ich erfahre, dass mein Gebet zu Ihm Früchte trägt. Und wenn ich erlebe, dass ich Anderen auf diese Weise Gutes tun kann. Es bewahrt mich vor der Verzweiflung in der Machtlosigkeit, wenn ich auch dann Zuflucht im Gebet nehmen kann, wenn alle anderen Hoffnungen aufgegeben werden mussten.
Mein Vertrauen in die Güte Gottes und in Seine Liebe zu mir wächst, wenn ich weiß, dass mein stilles und verborgenes Tun auch über weite Entfernungen wirksam sein kann. Nicht, weil das Tun selber magisch wäre, sondern weil Gott mir diese Gnade schenkt.

Dass das Gebet zu den Heiligen, die ich um ihre Fürsprache gebeten habe, oft überraschend und unglaublich fürsorgend beantwortet wird, bestärkt mich in der Gemeinschaft mit allen Heiligen, nimmt mir die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit. Es vergrößert meine Hoffnung auf ein Leben in der gemeinsamen Anschauung Gottes – und es nimmt mir meine Ängste, in der kommenden Welt außer Gott keinen meiner Liebsten wiederzusehen.

Dass Gott auch Gebet um scheinbare Nichtigkeiten erhört (um das Wiederfinden der verlorenen Euro-Münze, für das pünktlichen Erscheinen eines geliebten Menschen, gutes Wetter beim kommenden Familienausflug usw.), zeigt mir, dass er wahrhaft ein «menschgewordener Gott» ist, der um Kleinigkeiten des Lebens weiß. Und der mich auch auf diese Weise mit einer Wolke von Wundern umhüllen möchte. Ich darf Gott auch um diese kleinen Nebensächlichkeiten bitten!

Hüten wir uns aber davor zu meinen, dass das Gebet selbst rein psychologisch wirksam ist und das fürbittende Gebet nur eine besondere Art der Gruppendynamik. Manche der Wege Gottes können wir nachvollziehen (so bekehrt sich Bruce im Film «Bruce allmächtig» durch das Gebet seiner Freundin – weil er es hört und sich deshalb verändert). Aber Gott kennt auch andere Wege, übernatürliche und natürliche. Ich glaube fest an die Macht des Gebetes, dafür muss ich nicht jede Querverbindung kennen. Ich glaube daran, ohne Beweis dafür nötig zu haben. Ich bin davon überzeugt, weil jedes Gebet (ob fürbittend, bittend, lobend oder anbetend) eine Form der Liebe ist. Und Gott keine Liebestat vergeblich sein lässt.

Noch ein Problem: Der freie Wille

Im Gebet für andere tut sich aber noch ein weiteres Problem auf. Denn wenn wir um das Heil eines geliebten Menschen beten – hebeln wir dann nicht dessen Freiheit aus? Es ist doch die unantastbare Freiheit eines jeden Menschen, sich frei für oder gegen Gott zu entscheiden. Wie kann ich da mit meinem Gebet helfen, ohne diese Freiheit zu beschädigen?

Wenn ich zum Beispiel einen guten Freund habe und immer wieder für seine Bekehrung bete – was macht Gott dann? Zwingt er ihn? – Wenn verzweifelte Eltern, deren Sohn von zuhause weggelaufen ist, um dessen Rückkehr bitten: Lässt er ihn dann gegen dessen Willen zurückkehren? Weil die Eltern gebetet haben?

Nun, Gott respektiert den Willen eines jeden Mensch immer und überall. Schon deshalb, weil er uns als freie Menschen geschaffen hat und unsere Liebe möchte. Eine erzwungene Liebe ist dagegen keine Liebe mehr. Deshalb sprechen wir sinnvoll auch vom «Werben Gottes» um die Liebe eines jeden Menschen. Wenn wir nun für die Bekehrung eines Menschen beten, dann können wir von Gott natürlich nicht erwarten, dass er dem Beter zuliebe gegen sein eigenes Wesen handelt, seine Güte außer Kraft setzt und den verlorenen Sohn zur Rückkehr zwingt.

Vielmehr wirkt mein Gebet genauso, wie auch schon Gott wirkt: werbend, tröstend, mutmachend. Gott freut sich über das fürbittende Gebet um die Bekehrung bestimmter Menschen, weil er dies in Sein Werben mit einbezieht. Vielleicht ganz offensichtlich: Indem er den «verlorenen Sohn» erfahren lässt, dass nicht nur Gott, sondern auch besorgte Menschen ein Interesse an dessen Glück haben und deshalb für ihn beten. Vielleicht nur indirekt: Indem sich die betenden Menschen selbst verändern und somit Hindernisse ausräumt, die einer Bekehrung im Wege gestanden haben. Oder vielleicht ganz im übernatürlichen Sinne: Dass derjenige, für den gebetet wurde, die Liebe der Betenden spürt und deshalb «heimkehren» kann, ohne dass er sich bewusst ist, woher diese gespürte Liebe kommt.

Natürlich könnte Gott in Seiner Allmacht einem jeden dieses «Gefühl» geben, auch wenn dieser in Wirklichkeit von niemanden auf der Erde geliebt und vermisst wird. Aber dann wäre dieses «Gefühl» eine Lüge, und keine Offenbarung. Gott lügt aber nicht. Gott wird keinem Menschen eine Illusion von sorgenden Betern ins Herz senken, wenn es diese in Wirklichkeit nicht gibt. Das ist der Unterschied zwischen dem «Gefühl», dass jemand für mich betet – und dem «Gespür», dass die Liebe des Beters real ist.

Ja, es kann sogar sein, dass unsere Liebe von größerer Wirksamkeit ist als die Liebe Gottes. Das klingt seltsam? Ist es auch, denn natürlich ist Gottes Liebe immer größer und reiner als unsere menschliche Zuneigung. Klar. Aber es kann durchaus sein, dass manche Menschen sich Gott erst öffnen, wenn sie erfahren, dass ein ganz konkreter Menschen für sie betet und hofft. Vielleicht sind wir dieser Mensch?!

Am Ende all dieser Überlegungen über das fürbittende Gebet und dessen Wirksamkeit müssen wir aber auch zugestehen, dass der freie Wille des Menschen selbst für Gott eine Grenze ist, die er nicht durchbricht. Ein Brechen des Willens käme einer Zerstörung des Menschen gleich. Gott will uns Menschen aber nicht vernichten, sondern heilen. Deshalb wird sogar Gott unter Umständen auf die freie Ablehnung all Seines Werbens stoßen. Und damit kommt auch unser Bittgebet an eine Grenze.
Allerdings: Solange ein Mensch lebt, gibt Gott ihn nicht verloren. Solange dürfen wir nicht nur hoffen und beten, wir sollen es sogar!

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Schlagwörter: , , , Last modified: 23. Mai 2020