Die Frage, ob Gott existiert, ist eigentlich keine zentrale Frage des Christentums. Sie ist überhaupt keine religiöse Frage; die Religion antwortet nicht auf die Frage nach der Existenz Gottes – sondern beschreibt Gott, empfiehlt und fördert eine Beziehung zu ihm. Gottes Existenz wird in der Religion also vorausgesetzt – wohl auch deshalb, weil für eine lebendige Beziehung zu Gott die Behauptung, er würde zumindest existieren, völlig unzureichend ist.

Mittlerweile befinden wir uns jedoch in einer Zeit, die wir getrost als »naturwissenschaftliches Zeitalter« bezeichnen können. Und so ist die Frage nach der Existenz Gottes für Viele zur wesentlichen Frage geworden; sowohl für Skeptiker, die durch ein Fehlen von Beweisen aus den Naturwissenschaften ihre A-Religiösität rechtfertigen, als auch für Glaubende, die sich fragen, ob sie nur einer Illusion erliegen.

Glauben religiöse Menschen – neben der sichtbaren Wirklichkeit – an eine zusätzliche Realität? Wie hängen Naturwissenschaften und Religion zusammen? Sehen religiöse Menschen (im buchstäblichen Sinne) Gespenster? Haben sie Halluzinationen?

Früher glaubte man, Wissenschaft und Religion widersprächen sich; heute geht man von einem beziehungslosen Nebeneinander aus. Weder das eine noch das andere ist richtig: Denn Gott, die Religion, die Natur und die Naturgesetze sind alle Teil der einen Wirklichkeit.

Wir können nicht anders, als Wirklichkeit zu interpretieren

Religiösen Menschen wird oft vorgeworfen, sie würden Ereignisse in ihrem Leben als Zeichen für eine größere Wirklichkeit interpretieren, dabei seien diese Gegebenheiten entweder nur Zufall oder ein Produkt von Naturgesetzlichkeiten. Man bezichtigt religiöse Menschen, anstatt die Dinge zu nehmen, wie sie sind – eben als Dinge ohne jede Bedeutung oder Botschaft -, in die Wirklichkeit scheinbare Bedeutungen hineinzuinterpretieren. Besser sei es – so wird oft vorgeschlagen – einfach zu leben und zu genießen, anstatt einen Sinn zu suchen und angeblich zu finden, den es doch gar nicht gibt.

Das Faszinierende ist allerdings, dass das gar nicht geht. Der Mensch ist Mensch, weil er alles, was er wahrnimmt, deutet. Ein Mensch, der lächelt, wird nicht nur als ein Muskel-Knochen-Paket wahrgenommen, dessen Mundwinkel durch eine vollkommen bedeutungslose Neuronenaktivität nach oben gezogen werden. Wir sehen kein Muskelspiel, sondern einen lächelnden Menschen. Wir sehen Leid, und nicht nur Abweichungen vom Normbefinden. Wir sehen Menschen in die Augen, und nicht nur in deren Lichtwahrnehmungsorgane.

Wir Menschen nehmen so automatisch eine immaterielle Realität in der materiellen Schicht wahr, dass wir uns dessen meist überhaupt nicht bewusst sind. So wird ein eingefleischter Leugner einer geistigen Realität diesen Satz lesen und gar nicht merken, dass er schon dadurch widerlegt ist: Er nimmt nicht nur schwarz-weiße Muster auf dem Papier (oder Monitor) wahr, sondern er sieht Buchstaben, die Worte und Sätze bilden und über die materiellen Möglichkeiten von Papier und Monitor weit hinaus einen geistigen Inhalt haben – in diesem Fall die Behauptung, es gäbe so etwas wie »Geistigkeit«. Aber selbst, wenn er behauptet, dass es eine solche Wirklichkeit nicht gäbe, benutzt er die Materie (zum Beispiel die Luft als Schallträger, wenn er spricht), um Nicht-Materielles auszudrücken.

Ein Redner, der gegen die Existenz jedes Geistigen spricht, widerlegt sich schon durch diese Tätigkeit selbst: Er stellt Behauptungen auf. Er wird zudem auf die Reaktion seines Publikums warten, die wiederum geistiger Natur ist (zum Beispiel Zustimmung, Ablehnung, Ironie oder Langeweile) und die er nur erkennt, indem er Gesichtszüge, Gestik und Körperhaltungen der anwesenden Bioformen interpretiert.
Das Aufstöbern von Realitäten in und hinter den Dingen, die wir wahrnehmen, ist unsere Natur. Die Behauptung, es gebe nur die materielle Oberfläche, aber darin keine immaterielle Wirklichkeit, ist im Grunde so absurd, dass es eigentlich eine philosophische Peinlichkeit ist, so etwas nur zu behaupten oder gar zu diskutieren.

Interpretation und Beweisbarkeit

Nun gibt es innerhalb der materiellen Ordnung Gesetzmäßigkeiten, die gelegentlich Voraussagen auf zukünftige Ereignisse möglich machen. Von einem fallenden Apfel wissen wir zu Beispiel, dass er auch in naher Zukunft weiterfallen wird – und zwar in Richtung Erdmittelpunkt, bis er zum Beispiel durch die Erdoberfläche daran gehindert wird.

Mit dieser systematischen Durchdringung einer Wirklichkeitsebene kommen wir zu ziemlich sicheren Erkenntnissen (wir nennen diese Systematik zumeist »Naturwissenschaften«); niemals aber können wir mit der gleichen Sicherheit auf die Existenz einer tieferliegenden Wirklichkeit schließen. Ob der fallende Apfel ein Angriff des Baumes auf mich ist, ist ebenso eine Deutung wie die Vermutung, der Ball, der sich gerade auf mich zubewegt und der wenige Sekunden zuvor eine menschliche Hand verlassen hat, sei mir zugeworfen worden. Weder die eine noch die andere These lassen sich aus der materiellen Ebene heraus beweisen. Wer weiß – vielleicht ist der geworfene Ball doch nur ein Zufallswurf in meine Richtung? Und wer will auf der rein materiellen Ebene definitiv ausschließen, dass der Baum mich nicht doch mit Fallobst attackieren will? Keine physikalische Untersuchung kann eine dieser Thesen beweisen oder widerlegen. Sie sind schlicht keine physikalische Realität, obwohl sie eine physikalische Realität voraussetzen.

Sie sind Behauptungen über eine physikalische Wirklichkeit und zugleich über eine tieferliegende Realität: Das materielle Geschehen wird interpretiert auf eine tiefere Bedeutungsebene hin. Innerhalb einer Ebene (ob physikalisch oder geistig) können wir sauber argumentieren und Gesetzmäßigkeiten entdecken – und zum Beispiel zu der klaren Erkenntnis kommen, dass Bäume kein Obst willentlich fallen lassen, dass geworfene Bälle aber zumeist eine Aufforderung zum Fangen darstellen. Ja, wir können am Kontext des Ballwurfes (fand er im Stadion, in einer Turnhalle, im Klassenraum oder auf offener Straße statt?), an dessen Flugbahn und Geschwindigkeit eine ganze Menge weiterer Dinge erkennen (zum Beispiel, ob der Ball mich treffen oder gar verletzen sollte). Alles das ist – wie gesagt – zwar physikalisch-materiell fassbar, aber beinhaltet zugleich eine Bedeutungsebene, zu der wir nicht durch Verlängerung von Prozessen, sondern durch Interpretation Zugang finden.

Bis in tiefere Schichten

In unserem Alltag interpretieren wir alle unsere Wahrnehmungen auf ihre Bedeutung hin mit einer Geschwindigkeit und Routine, die uns kaum Raum lässt, uns dessen überhaupt bewusst zu werden. Ja, viele Interpretationen sind uns dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir zum Beispiel beim Hören einer Autohupe oder dem Rufen der Lautfolge, die wir als unseren »Namen« bezeichnen, spontan und unwillkürlich reagieren.
Das war nicht immer so: Was unser Name ist und was das Hupen im Straßenverkehr bedeutet, haben wir gelernt; das Wissen darum wurde uns nicht schon mit in die Wiege gelegt. Aber dass wir die Wirklichkeit interpretieren, ist uns tatsächlich in die Wiege gelegt – ja, sogar schon menschliche Eigenheit der Kinder im Mutterleib.

Seitdem lernen wir. Mittlerweile sind uns auch schon tiefere Schichten geläufig: So erkennen wir aus der Art und Weise, wie unser Name gerufen wird, ob uns Lob, Tadel oder Unheil droht. Wir interpretieren die Stimme anderer Menschen nicht nur als liebevoll oder aggressiv, sondern können auch einen liebevollen Tonfall bestimmter Menschen als nur vorgetäuscht und bösartig interpretieren. Auch das kann uns in Fleisch und Blut übergehen.

Je älter wir werden und je größer unsere Erfahrungen sind, umso tiefer können wir unsere Wahrnehmungen deuten (»War in der Traurigkeit meines Freundes schon ein Anflug von Resignation und Verzweiflung zu vernehmen? Sollte ich mir Sorgen machen?«). Für andere mögen bestimmte Interpretationen nicht mehr nachvollziehbar sein – weil sie grundsätzlich oder in diesem speziellen Fall keine Anzeichen für eine weitere, tiefere Bedeutung sehen. So, wie ein kleines Kind die Zeitung nicht liest – weil es die Buchstaben zwar sieht, aber nicht in ihrer Bedeutung wahrnimmt -, sondern lieber in lustige Fetzen zerreißt, die ganz toll durchs Wohnzimmer schweben.

Offensichtliche Fehlinterpretationen

Naturwissenschaftler machen Fehler; das ist kein Grund, an den Naturwissenschaften als solchen zu zweifeln. Es gehört zur Aufgabe und Methode der Naturwissenschaften, Hypothesen über Zusammenhänge aufzustellen, die sie erst anschließend nachweisen – oder aufgeben müssen. Manchmal dauert es Jahre oder sogar Jahrzehnte, bis eine Hypothese widerlegt ist; und oft gibt es in der Gemeinschaft der Naturwissenschaftler Parteiungen und Meinungsgruppen, die zum Teil sehr gegensätzliche Auffassungen vertreten.

Daher darf es uns auch nicht wundern, dass wir auch bei der Interpretation der Wirklichkeit Fehler machen. Das Entscheidende, worauf es ankommt, ist die Möglichkeit, Fehler als solche zu erkennen. Der Vorwurf, »Interpretationen seien Geschmackssache und kein klarer Erkenntnisweg« wäre erst dann berechtigt, wenn wir zwischen angemessenen und falschen Interpretationen prinzipiell nicht unterscheiden könnten.

Aber dem ist nicht so: Natürlich kann jeder in einem Wolkengebilde im blauen Himmel Hasen, Gummienten, Heidi und den Ziegenpeter erkennen – die Frage, ob diese Wolken tatsächlich lebendige Objekte sind, lässt sich ohne weiteres klären. Und auch, wenn Schriftdeuter einen Text unterschiedlich verstehen oder zwei Schüler den Gesichtsausdruck des Lehrers unterschiedlich deuten – was richtig und was falsch ist, lässt sich sicher herausfinden. Und zwar nicht unbedingt nur mit naturwissenschaftlichen Methoden: Die können zwar helfen und entdecken, dass Wolken und Hasen und Gummienten ganz verschiedene chemische Zusammensetzungen besitzen; vielleicht kann es auch hilfreich bei der Interpretation eines Textes sein, wenn ein Chemiker das Alter des Papieres oder der Tinte bestimmt. Aber die Geisteswissenschaften haben schon ihre eigenen, ganz klaren Kriterien, nach denen eine Interpretation (zum Beispiel eines Romans oder eines Musikstückes) vernünftig (oder rational) zu belegen ist.

Versuch einfach, Deinen Deutschlehrer mit dem Hinweis, Text-Interpretationen seien unwissenschaftlich und letztlich beliebig, als emotionalen Spinner vom Unterricht auszuschließen … viel Erfolg.

Natürlich spielt bei der Eindeutigkeit der Interpretationen auch die Textsorte eine Rolle. Lyrik ist letztlich darauf angelegt, mit offenen Sprachbildern zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten nahezulegen; eine Gebrauchsanweisung der neuen Spülmaschine dagegen erlaubt normalerweise nur eine Interpretationsweise – nämlich die, die zur Reinigung des Geschirrs führt. Das gilt auch für die bildende Kunst: Ein Gemälde von Salvatore Dali will gegensätzliche Deutungen anregen und unbestimmt bleiben – die grandiosen Kunstwerke, die IKEA den zerlegten Möbeln beilegt, sind in ihrer Interpretation eindeutiger. (Auch nicht immer – das habe ich selbst schon erfahren müssen. Aber, wie gesagt: Es hat sich nachher als Fehlinterpretation erwiesen.)

Bei meinem letzten Besuch der Atta-Höhle im Sauerland sprach die Höhlenführerin, wenn sie auf eine bestimmte Tropfsteinformation aufmerksam machen wollte, von so wundersamen Dingen wie Eisbären, Weihnachtsmännern, Hochzeitstorten und Märchenschlössern – allen Besuchern in der Gruppe war klar, welche Formation sie gerade meinte. Und dennoch geriet keiner in der Gruppe in Panik, weil jemand die bildhafte Interpretation, eine Kalkformation als Eisbären zu bezeichnen, für bare Münze genommen hätte.

Es gibt sogar eine eigene Wissenschaft, die sich mit dem Verstehen beschäftigt: Die Hermeneutik.

Information statt Sinn

Nun begegnen wir Christen einem Typus von Menschen, der – wenn er konsequent denken würde – im Alltag nicht überleben würde: dem Materialisten. Ein solcher Menschentyp denkt, es gebe keine weiteren tieferen Schichten von Sinn hinter der Materie. Natürlich behauptet ein solcher Mensch das nur, wenn jemand von Seele, Engel oder Gott spricht. Es wäre ja absurd, das auch auf alles andere zu übertragen: Auf Bücher, Zeitschriften, Hinweisschilder und so weiter. Bei diesen Dingen scheint auch einem Materialisten klar, dass sich dort Botschaften verbergen – aber eben vom Menschen hineingelegt. Der Mensch sei die Quelle von Informationen, die er in die Natur legt. Darüber hinaus gebe es keine Deutung.

Nun, das klingt schon ein wenig konstruiert. Wir deuten ja nicht nur Schrifttexte und Wolkenformationen; die allererste und alles entscheidende Deutung ist die des menschlichen Geistes im anderen Menschen; also eine unsichtbare Ebene, die nicht vom Menschen in einen Gegenstand hineingelegt wurde. Will ein Materialist auch diesen Erkenntnissen eine tiefere Ebene absprechen? Dann wäre alles, worauf ein Mensch sein Leben setzt (nämlich auf das Verstehen, Übereinstimmen und Kommunizieren mit anderen Menschen), eine hohle Illusion. Noch verrückter: Dann gilt die Behauptung, es gebe keinen wirklichen Sinn, auch für den, der diese Behauptung ausspricht. Dann wäre jede »Behauptung« nur eine mehr oder weniger sinnlose Lautfolge im Rauschen des Kosmos.

Es gibt dennoch Materialisten, die diesen Spagat versuchen, indem sie einen neuen Begriff einführen, der innerhalb der materiellen Ebene bleibt: Geist, Seele, Sinn und Bedeutung gibt es nicht, nichts hat eine tiefere Ebene. Alles, was wir in Büchern und Gesichtern anderer Menschen entdecken, sei nur Information.

Informationen gibt es auch innerhalb der Naturwissenschaften. Das heißt: Materielle Symbole deuten nicht auf tiefere Ebenen hin, sondern auf andere materiellen Strukturen. Das gilt zum Beispiel für die DNS (der Erbsubstanz) oder für Kristallbildungen; Einzeller reagieren auf materielle Reize ebenso wie Pflanzen (auch das Sonnenlicht ist ein materielles Phänomen). Tiere reagieren auf Signale, die vor Gefahren warnen oder Nahrung ankündigen; sie reagieren ebenso auf sexuelle Reize, die gelegentlich vollkommen abstrakt sind. Was hindert uns also daran, die Reaktion von Menschen auf das Lachen eines Babys als materiellen »Mutterreflex« zu deuten – und die Schlägerei zwischen Männern angesichts einer schönen Frau als primitives Balzverhalten egoistischer Gene zu interpretieren?

Nun, ganz einfach: Weil wir nicht nur reagieren, sondern unsere und die Reaktionen der anderen verstehen und uns dazu verhalten wollen. Wir geben uns nicht damit zufrieden, dass Dinge passieren, weil Hormone ausgeschüttet worden sind, wir wollen den Sinn einer Handlung verstehen. Wir beantworten Warnrufe unserer Artgenossen nicht nur mit angeborenem Panikverhalten oder Nahrungsversprechen mit ungezügeltem Appetit. Wir fragen uns, ob Angstmacherei moralisch ist und ob die irreführende Werbung für falsche Ernährungsmethoden strafbar sei. Mit anderen Worten: Es ist so offensichtlich, dass wir uns als Menschen eben nicht nur in einer eindimensionalen Informationswelt befinden, sondern wir sind geistige Wesen mit seelischen Tiefendimensionen und einem Hunger nach Sinn.

Mag sein, dass der Hunger nach einem letzten Sinn niemals gestillt wird. Vielleicht gibt es keinen Gott und alles ist sinnlos. Aber dieser Hunger nach Sinn und Bedeutung existiert und hat keinen materiellen Ursprung; er ist der erste Hinweis auf eine tiefere Ebene, weil er selbst Teil dieser tieferen Ebene ist. Und damit ist er der erste Grund, Hoffnung zu haben, dass es doch eine positive Antwort gibt.

Offenheit und Autonomie

Natürlich kann auf der materiellen Ebene nur dann etwas einen Sinn enthalten, wenn eine tiefere geistige Ebene die stoffliche Welt verändern kann. Wenn der menschliche Geist etwas ausdrücken will, muss er Muskeln, Lunge, Luft und Kehlkopf steuern können. Wenn der menschliche Geist dazu in der Lage ist – und das ist er offensichtlich – dann heißt das nichts anderes, als dass die materielle Welt durch ihre eigenen Gesetze nicht restlos festgelegt ist. Wenn der menschliche Geist den Leib dazu bringen kann, nicht rechts, sondern links abzubiegen, dann ist also der Weg der Füße nicht allein durch Biologie, Chemie und Nervenbahnen bestimmt, sondern offen für eine Beeinflussung durch den menschlichen Geist.
Wie anders könnten Menschen Bücher schreiben, Lieder singen, Instrumente spielen und Kunstwerke malen? Was Christen von ihrem Gott glauben – nämlich dass er zart und vorsichtig die Geschicke der Welt lenkt -, das geschieht alltäglich, minütlich, sekündlich: Der Mensch ist nur deshalb Mensch, weil seine Seele sich der Materie als Ausdrucksmittel bedient.
Aber – und das ist wichtig – die Materie wird durch die Einflussnahme der Seele nicht ihrer eigenen Wirklichkeit und Gesetzmäßigkeit beraubt. Es geschehen nicht ständige Durchbrechungen der Naturgesetze, wenn ein Künstler eine Holzfigur schnitzt. Das Holz des Bildhauers bleibt Holz – und wird doch ein Kunstwerk. Der Leib des Menschen bleibt stofflich – und wird doch zum Ausdruck einer größeren Wirklichkeit. Die Welt bleibt eine in sich existierende Welt – und ist doch Gottes Schöpfung und Widerschein seines Wesens.

Die Materie ist offen und zugleich autonom. Sie ist autonom, weil sie eigene Gesetze hat und diesen gehorcht; sie ist offen, weil in ihrer Existenz Sinn, Bedeutung und Schönheit zum Ausdruck kommen kann.

Was ist nun »Glauben«?

Vielleicht können wir in der Wirklichkeit verschiedene Schichten unterscheiden – obwohl diese Schichten nicht wie Ebenen einer Tiefgarage deutlich voneinander getrennt sind, sondern eher wie die Farben des Regenbogens ineinander übergehen, ohne dass exakte Trennlinien erkennbar sind. Aber dennoch gibt es die verschiedenen Farben:

Die erste, oberste und deutlichste Schicht ist die der Materie, der sinnlichen Wahrnehmung; so wie auch Fotoapparate, Kameras oder Messgeräte die Welt wahrnehmen und in unzähligen Daten beschreiben. Auch wenn einige der Daten strittig sind und die Zusammenhänge nicht immer eindeutig, die materielle Oberfläche dieser Welt ist klar erfassbar.

Doch Menschen (und auch Tiere) sehen nicht nur Farben, Werte und Daten, sondern sie erkennen in dieser Welt ihresgleichen; sie reagieren zielgerichtet auf Signale und Symbole; sie deuten Spuren, Gerüche und Geräusche. Das kann keine Kamera und kein Messgerät – aber eventuell die daran angeschlossenen Rechner, Computer oder Systeme – erfassen. Allerdings nur, wenn sie (wiederum vom Menschen) entsprechend programmiert und geschaltet wurden.

Noch eine Ebene tiefer deuten gerade Menschen die Signale und Symbole (ob es sich dabei um das Lächeln eines menschlichen Gesichts handelt oder die Leuchtreklame am Times Square in New York) und befragen sie auf deren Aussagen und Absichten. Sollen wir (durch das Lächeln oder die Reklame) verführt werden? Oder nur erfreut, unterhalten oder sogar belohnt? Wir suchen nach einem Sinn – und sind damit schon jenseits des Materialismus. Aber noch nicht bei Gott.

Wir können noch weitere dieser »Zwischenebenen« unterscheiden, wenn wir wollen: Wir können nicht nur fragen, warum ein Mensch lächelt und welche Absicht er damit verbindet; wir können diese Absicht wiederum hinterfragen und sie als gut oder böse qualifizieren; noch eine Ebene tiefer können wir fragen, ob unsere Maßstäbe von Gut und Böse angemessen oder veraltet sind – und so weiter.

Wenn wir nun einen religiösen Menschen betrachten, stellen wir fest, dass er in Bezug auf Gott nichts wesentlich anderes tut. »Glauben« ist keine neue, abstrakte und dem Menschen fremde Tätigkeit. Der Mensch, der zu dem Schluss kommt, dass Gott existiert, hat nicht eine Grenze der Rationalität überschritten, sondern bleibt in dem, was er tut, ganz und gar Mensch. Wie beim Betrachten eines menschlichen Gesichtes schließt der religiöse Mensch auch außerhalb der von Menschen gestalteten Wirklichkeit von der (materiellen) Oberfläche auf eine darinliegende (geistige) Sinnebene.
Im Grunde ist der glaubende Mensch nur ehrlicher als die sogenannten Materialisten. Denn auch diese interpretieren die Wirklichkeit (immer und überall) – wenn auch als sinnlos und rein stofflich; während der Glaubende erkennt, dass vieles auf der materiellen Ebene sinnvoller Ausdruck einer tieferliegenden Ebene ist. Wir alle (!) suchen nach diesen Elementen, die nicht allein den Gesetzlichkeiten der Natur unterliegen, sondern zugleich Zeichen, Botschaften, Hinweise, klare Signale oder sogar Ansprache eines vernunftbegabten Geistes sind, der hinter allem steht. Auch wenn der eine oder andere behauptet, diese Suche sei erfolglos und vergeblich – sie halten dennoch danach Ausschau.

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