Die Frage, ob die weltweite Corona-Krise eine «Strafe Gottes» oder doch zumindest ein «Zeichen Gottes» sei, wurde in der vergangenen Zeit laut und kontroverse diskutiert. Allerdings greift diese Diskussion zu kurz, denn der Wunsch der Menschen, «Zeichen zu sehen», ist ja nicht nur auf die ganz großen Weltereignisse beschränkt. Menschen deuten die Wirklichkeit und befragen sie immer in Hinblick auf einen verborgenen Sinn – ob es nun die Klimakatatrophe ist oder das Auto, das «ausgerechnet jetzt» nicht anspringt.
Dabei ist es wichtig, diese Sinnsuche nicht als ein Zeichen von religiösem Übereifer zu deuten – im Grunde ist das eine urmenschliche Eigenschaft; ja, vielleicht werden wir erst dadurch zu Menschen, weil wir Sinn erkennen und immer wieder neu entdecken.
Allerdings gibt es schon die Sorte von Mensch, die es unserer Meinung nach übertreibt. Vielleicht kennt jeder von uns einen Menschen, der unser Reden und Tun ständig «auf die Goldwaage legt». Der auch dort noch einen verborgenen Sinn in unseren Worten sucht, wo wir über den offensichtlichen Sinn hinaus gar keine Absichten gehabt haben. Solche Menschen sind anstrengend, sie hören «die Flöhe husten» und «das Gras wachsen».
Von solchen Menschen erbitten wir uns, dass sie in unser Reden und Tun nicht «irgendetwas hineininterpretieren», was überhaupt nicht in unserer Absicht lag. Solche Menschen entdecken keinen Sinn, sondern verteilen ihn. Überall. Auch dort, wo er nicht hingehört.
Übersensible Menschen gibt es auch im religiösen Bereich. Nur fallen sie dort nicht so auf, weil selbst für «normale Christen» (falls es so etwas gibt) die Deutung der Wirklichkeit als Geschenk, Zeichen oder auch Ermahnung Gottes zum Leben dazu gehört.
Dem will ich auch nicht grundsätzlich widersprechen. Ich möchte nur eine simple Unterscheidung anbringen, die allerdings das «Zeichen-Sehen» in einem neuen Licht erscheinen lässt. Ein hoffentlich klareres Bild.
Nehmen wir ein Beispiel: Mehrere Menschen sitzen zusammen in einem Raum, unterhalten sich und machen sich ihre jeweils eigenen Gedanken. Plötzlich fällt – ohne Ankündigung – das Kreuz, das an der Wand hängt, mit einem lauten Knall zu Boden. War das jetzt ein Zeichen? Und wenn ja, wofür? Und von wem?
Der eine, der vielleicht gerade im Gespräch gelogen hatte, wird es vielleicht als Ermahnung deuten: «Lüge nicht, mein Sohn!»; eine Andere, die sich fragte, wofür das Leben gut sein solle, sieht sich vielleicht ermahnt, wieder mehr auf Gott zu vertrauen; ein Dritter wird sich denken: «O mein Gott, wir alle sind verflucht!» und ein Vierter denkt sich vielleicht, dass das nur ein Zeichen dafür ist, dass es Gott nicht gibt.
Und – war es nun ein Zeichen Gottes? Hat Gott das Kreuz fallen lassen? Meine Antwort: Das Kreuz ist von der Wand gefallen, weil der Nagel es nicht mehr halten konnte. Nicht mehr, und nicht weniger.
Abgesehen davon, dass ich die gesamte Wirklichkeit als eine Selbstoffenbarung betrachte, stimme ich mit einem atheistischen Rationalisten darin überein: Das, was in der Welt so geschieht, hat keinen zusätzlichen, objektiv erweisbaren Sinn – es sei denn, (1) es wurde vom Menschen absichtsvoll verursacht (zum Beispiel eine Mail – die hat sehr wohl einen Sinn. Meistens.) oder (2) es handelt sich um einen direkten Eingriff Gottes, den wir normalerweise «Wunder» nennen.
Das gilt für herabfallende Kreuze genauso wie für größere Ereignisse. Das gilt für Positives (wie eine Heilung oder einen Lottogewinn) genauso wie für Leidvolles (wie eine Naturkatastrophe oder die Corona-Epidemie). Es ist, was es ist. Dinge geschehen.
Gott schickt nicht der ganzen Welt die Corona-Epidemie, um der deutschen Kirche zu zeigen, dass es Wichtigeres als den Synodalen Weg gibt. Gott lässt keine Menschen sterben, um andere an die Wichtigkeit eines jeden Atemzuges zu erinnern. Gott verursacht keine Erdbeben, um die Selbstzufriedenheit einiger weniger zu Fall zu bringen. Und. So. Weiter.
Aber mein Gedankengang wäre unvollständig (und zudem trostlos), wenn wir bei dem simplen «die Dinge sind, was sie sind» stehen bleiben würden. Dann wären wir nicht weit entfernt vom atheistischen Rationalisten, der jeden Sinn leugnet.
Nein, es gibt schon eine persönliche Botschaft Gottes. Aber die liegt nicht in den Dingen, nicht im Ereignis selbst, sondern in dem, was dieses Ereignis in den Betroffenen auslöst. Wer sich bei einer Sünde ertappt fühlt, darf sich ruhig von Gott ertappt fühlen. Wer sich nach einer guten Tat belohnt fühlt, darf dies auch gerne auf Gott zurückführen. Es gibt nicht die Botschaft im Ereignis – sondern viele Botschaften in den Herzen derjenigen, die sich berühren lassen.
Wenn also die Corona-Epidemie uns erkennen lässt, dass wir unser Leben ändern sollten, dann ist das unter Umständen wirklich eine Botschaft Gottes. Aber sie liegt nicht in der Epidemie – es wäre mehr als zynisch zu glauben, um dieser Erkenntnis willen hat Gott Tausende Menschen sterben lassen.
Die Botschaft geschieht im Betrachten imd Imterpretieren des Ereignisses. Dort spricht Gott.
Das ist die Unterscheidung, die mir wichtig ist. Gott hat es nicht nötig, mir Viren, Unglücke oder Lottomillionen zu schicken, um mir etwas mitzuteilen. Das kann er auch direkt. Aber Gott nutzt gerne die Wirklichkeit, uns im Blick darauf Botschaften ins Herz zu legen. Aber erst, wenn wir offen auf das schauen, was geschehen ist. Nicht schon in dem Augenblick, in dem es fernab jeder Wahrnehmung geschieht.
Ein schönes Beispiel hat mir mein Dogmatik-Professor in Augsburg erzählt. Ein junger Mann liest in einem Geschichtsbuch von einer Christenverfolgung und den damit verbundenen Einzelschicksalen – und bekehrt sich. Sind die Christen nun damals gestorben, damit sich der junge Mann heute zum Glauben bekehrt? Der Bericht hat für ihn wie ein Zeichen gewirkt!
Tatsächlich mag die Stimme Gottes durch dieses Ereignis zu dem jungen Mann gesprochen. Aber die Christenverfolgung damals fand nicht aus diesem Grund statt. Die Christen damals wurden verfolgt, weil es böse Menschen gab, die die Guten nicht leben lassen wollten.
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