Die Rückblende am Lebensende

Zu den Nahtoderlebnissen gehört der Gang durch den Tunnel – dem Licht entgegen; die Begegnung mit bereits Verstorbenen; die «außerkörperliche Wahrnehmung», in der wir uns selbst von außen betrachten. Alles das können wir gut in unser christliches Verständnis vom Menschen, vom Sterben und vom Ewigen Leben integrieren.
Welche Rolle spielt aber eine weiteres, festes Element aus den Berichten der Nahtoderfahrungen: Die sogenannte «Lebensrevue» – der Blick zurück auf das eigene Leben? Lässt sich auch dieses Element christlich deuten?

Wir glauben der Offenbarung, nicht den Nahtoderfahrungen

Zuvor ist es wichtig, dass wir uns den wahren Quellen unseres Glaubens vergewissern. Wer aus unsicheren Quellen schöpft, gerät leicht auf einen falschen Pfad.
Gläubige Menschen sind dankbar für jeden Hinweis, der ihren Glauben bestätigt, und fragen dann nicht so genau nach, woher diese Bestätigungen stammen. Schnell ist dann der im Grunde abgelehnten Esoterik Tor und Tür geöffnet. Auch für Verschwörungstheorien sind tief christliche Menschen, die nicht ihre Glaubensquellen hinterfragen, leider sehr empfänglich.

So sind die Nahtod-Erfahrungen, so wie sie ursprünglich von Elisabeth Kübler-Ross und A. Moody beschrieben wurden, gern angenommene Bestätigungen des christlichen Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Aber sie ersetzen nicht die Offenbarung, noch weniger stehen sie gar über dem Glauben der Kirche!

Deshalb ist es wichtig, was wir hier in dieser Katechese tun wollen: Wir überprüfen die Berichte über ein übernatürliches Geschehen nicht nur auf ihre Glaubwürdigkeit, sondern fragen, ob sie sich harmonisch in die geoffenbarten Glaubenswahrheiten einfügt und sie dort einen sinnstiftenden Platz haben.
Falls wir zu den Schluss kommen, dass irgendein übernatürliches Phänomen unserem christlichen Glauben widerspricht oder auch nur eine neue Erkenntnis hinzufügen möchte, dürfen wir es nicht mit der Lehre der Kirche vermengen oder müssen es sogar ablehnen.

Die Lehre der Kirche ist durch Christus geoffenbart und durch den Heiligen Geist verbürgt – jede nachträglich Hinzufügung kann nicht den gleichen Grad an Sicherheit für sich beanspruchen.

Ich kann das Ergebnis dieser Katechese gerne vorwegnehmen: Wer den angeblichen «Lebensfilm» am Ende des Lebens, kurz vor dem Tod, christlich deutet, gewinnt noch einmal einen tieferen Zugang zu dem, was Erlösung bedeutet.

Das Phänomen: Der Lebensfilm

Es gehört zu einer immer wiederkehrenden Beschreibung des Lebensendes, dass bei sterbenden Menschen das ganze Leben noch einmal an den eigenen, inneren Augen wie in einem Film vorbei ziehe. So sagt man. Der Lebensfilm (oder besser: das Lebenspanorama) ereigne sich in lebensbedrohlichen Situationen und am ruhig erwarteten Lebensende – so liest man in Autobiografien, Romanen und Lebensbeschreibungen.

Die landläufige Vorstellung, das Leben laufe chronologisch vor einem inneren Auge ab wie in einem Kinofilm, deckt sich nicht mit den Berichten aus den Nah-Tod-Erfahrungen. Dort wird überwiegend davon gesprochen, dass sich das ganze Leben mit einem Blick erfassen lässt, wobei einzelne Situationen unabhängig von der zeitlichen Einordnung bewusst in den Blick genommen werden können. Deshalb sprechen viele in diesem Zusammenhang eher von einem «Lebenspanorama».

Wichtiger für unsere christliche Deutung ist allerdings nicht die Frage, ob die Ereignisse chronologisch sortiert sind oder nicht, sondern dass der Blick auf bestimmte Ereignisse immer mit einer intensiven inneren emotionalen Beteiligung erfolgt.
Das heißt, der Betrachtende wirft keinen neutralen Blick auf frühere Geschehnisse, sondern empfindet mit der damalige Situation unmittelbar: Scham, Entsetzen, Wut – aber auch Freude, Dankbarkeit und Zuneigung. Mit diesen Emotionen gibt er den Ereignissen eine Bedeutung – oder er empfängt aus dem erkannten Sinn dessen, was geschah, diese Gefühle.

Unmittelbare Emotionen

  • Ein Fehlverhalten wird von mir unmittelbar als beschämend empfunden. Ich würde gerne das gesehene Handeln verändern, unterlassen oder neu ausrichten. Scham oder Trauer überfluten mein Inneres.
  • Ein erlittenes Unrecht, das mir zugefügt wurde, löst bei jedem erneuten Erinnern die gleiche Wut aus, gepaart mit Zorn, manchmal Eifersucht und Rachegedanken, manchmal mit Trauer oder Scham über die erlittene Demütigung.
  • Ich erinnere mich, Zeuge eines schrecklichen Geschehens gewesen zu sein – und verspüre die gleiche Angst wie zu jenem Zeitpunkt. Ich schäme mich meiner Passivität, bin gedemütigt über meine Ohnmacht, wütend über die Ausnutzung der Situation durch den Täter oder schockiert über die gesehene Gewalt.
  • Ich erinnere mich an Momente des Glücks, des Erfolges oder des Beschenkt-seins. Vielleicht in den großen Augenblicken (der Eheschließung, der Geburt meiner Kinder, des Jubels nach einem großen Erfolg), vielleicht aber auch den stillen Momenten der Harmonie (bei einem Ausblick vom Berggipfel, einem guten Kaffee im Café nebenan, dem dankbaren Blick eines Unbekannten, dem ich ein wenig geholfen habe).

Wer mit geringem Abstand auf Erlebtes zurückschaut, verspürt die gleichen Emotionen wie im Augenblick des Erlebens. Das ist für viele Grund, schlechte Erinnerungen zu meiden; ein Verharren in dem, was war, wird oft als Grübeln und als traumatisch gedeutet. Aber vielleicht haben wir gar keine Wahl, weil sich die Erinnerung immer wieder in unsere Aufmerksamkeit schiebt.
Auch das Schöne und Erhebende möchte erinnert werden, und es tut gut. Ja, es besteht sogar ein gewisse innere Verpflichtung zur Wertschätzung der wunderbaren Momente, sie nicht zu schnell zu vergessen und ad acta zu legen.

Gereifte Einordnungen

«Emotional konnotierten Erinnerungen» können sich aber auch wandeln. Manchmal liegt der Grund für einen veränderten Blick schon in der Erfahrung selbst (wir wollen verstehen, warum und wozu etwas geschieht). Andere Erfahrungen können erst später gedeutet werden, weil bestimmte Auswirkungen auf mich und andere erst noch zu Tage treten müssen:

  • Scham oder Trauer, manchmal auch Wut über das eigene Verhalten können sich im Laufe der Zeit wandeln; wenn zum Beispiel erkannt wird, dass der Fehler, den man damals begangen hat, durch Erkenntnis und Reue zu einer positiven Veränderung der eigenen Persönlichkeit geführt hat.
  • Ein erlittenes Unrecht hat vielleicht dazu geführt, dass ich meine inneren Kräfte gesammelt und Verantwortung für mein Leben übernommen habe; vielleicht ist mir auch jemand zu Hilfe gekommen und aus dieser Begegnung hat sich eine beglückende, anhaltende Beziehung entwickelt. Vielleicht hat sich aber auch der Täter, der mich damals düpiert hat, angesichts dieser Tat radikal gewandelt und meine Beziehung zu ihm sich gebessert. Noch andere Entwicklungen sind denkbar, die zwar das erlittene Unrecht nicht ungeschehen machen, aber zu einer erweiterten Wahrnehmung kommen. Wenn ich mich heute daran erinnere, mischen sich dann vielleicht doch Erleichterung, Dankbarkeit und Ruhe in die immer noch vorhandene ursprüngliche Wut.
  • Grausamkeiten in der Welt – ob nun real erlebt, in den Nachrichten zur Kenntnis genommen oder in Romanen oder Kinofilmen vorgestellt – können mich zwar in meinem Glauben an das Gute in der Welt erschüttern. Aber auch daran erinnern, wie dankbar wir sein können, helfende und heilende Menschen an unserer Seite zu haben. Oder, noch schöner: Selbst zu solchen geworden sein.
  • Die Erfahrung, dass es wirklich Böses in dieser Welt gibt, kann uns den Mut nehmen, in dieser Welt zu wirken. Oder auch erst recht dazu bewegen, diese Welt zu verändern. Die Welt retten können wir nicht; aber denen zur Seite zu stehen, die unsere Hilfe brauchen, ist niemals eine vergebliche Tat.
  • Freude und Dankbarkeit für schöne Momente können uns in der Illusion bestärken, es gebe kein Leid in dieser Welt. Aber vielleicht machen sie uns auch Mut, von dieser Freude denen zu geben, die davon zu wenig haben.
  • Ich weiß von Menschen, die erst durch die Erfahrung von persönlichem Glück in die Lage versetzt wurden, die Not anderer wahrzunehmen – und bewegt wurden, sich für die Linderung von Leid in dieser Welt zu engagieren.

Wer über einen längeren Zeitraum die immer gleiche Erinnerung mit der immer gleichen Emotion pflegt, betrügt sich um neue Erfahrungen. Erst, wenn wir Altes und Neues in Beziehung setzen, ist unser Leben ein Voranschreiten. So kann Freude sich vertiefen – und dadurch Leid relativieren. Genauso kann Leid mit anderem Leid verbunden zur Sinnfrage werden – oder mit der Erkenntnis verbunden sein, dass auch das Schlimme gute Folgen haben kann. Das Leben ist nicht schwarz-weiß, sondern gestaltet sich in vielen Grau-Schattierungen bishin zur großen Farbenpracht.

Gott erfahren

Der Mensch ist aber nicht nur dafür gemacht, die Ereignisse seines Lebens in Beziehung zueinander zu setzen, um so ein Bild einer größeren Wirklichkeit zu bekommen. Es gibt auch eine Wirklichkeit jenseits dieser Welt und hinter diesem Leben. Oder, besser ausgedrückt: Unser Welt besteht nicht nur aus Querverbindungen, sondern auch aus Tiefen und Höhen geistiger und göttlicher Wirklichkeit. Und es fällt wirklich nicht schwer, diese im Rückblick auf unser Leben zu entdecken:

  • Gott schickt uns kein Leid, aber er steht uns im Leid bei. Mit genügend großem Abstand erkennen wir in schwierigen Situationen nicht nur das Belastende, sondern auch die Kraft, mit der wir die Situation durchstehen konnten. Woher aber kommt diese Kraft?
  • Manche behaupten, im Nachhinein «sei alles gar nicht schlimm» gewesen. Oft scheint dieses Einschätzung aber eher eine Selbsttäuschung zu sein: Weil wir mehr Durchhaltevermögen gehabt haben, als zuvor geglaubt, ist das Leid nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: Manche Dimensionen offenbaren sich erst, wenn ich das volle Ausmaß des Bedrohlichen realisiere. Dann fällt es nicht schwer, helfende Kräfte – Schutzengel, Namenspatrone oder Gottes selbst – zu entdecken.
  • Viele reden von «Gotteserfahrungen» nur, wenn es sich um wunderbare, in ihrer Schönheit überwältigende Ereignisse handelt. Und doch ist der überraschende Trost, der unverhoffte Mut, das letzte Zögern vor einer Verzweiflungstat eher Gottes Handschrift.
  • Freude kann man kaufen oder doch zumindest organisieren, wenn man weiß, wonach Menschen sich sehnen und was sie wünschen. Aber viel häufiger fällt Freude quasi vom Himmel – oft in kleinen Häppchen. Bei einer kühlen Brise im Sommer oder einen Sonnenstrahl im Sturm. In einem Augenblick, wenn zwei Seelen eine kurze Verbindung aufbauen.

Oft fragen wir bei Ereignissen, warum Gott «sie uns schickt», in der Hoffnung, dass uns dann der Sinn erschlossen wird. Einen Sinn in allem zu entdecken oder wenigstens zu glauben, ist überlebenswichtig – das hat spätestens Viktor Frankl in seinen KZ-Erfahrungen feststellen können. Aber der Glaube, alles was geschieht, komme von Gott direkt und aus einem guten Grund, wird der Sündhaftigkeit der Welt – und unserer eigenen dunklen Seiten – nicht gerecht. Die Ereignisse an sich haben manchmal keinen Sinn, vor allem wenn sie der Boshaftigkeit der Menschen entspringen. Aber wir können ihnen einen Sinn geben. Aus diesem Grunde ist es oft im Augenblick das Erlebens gar nicht möglich, den Sinn schon vor Augen zu haben. Mit genügend Abstand nach diesem zu suchen oder dem Geschehenen einen Sinn zu geben, ist Ausdruck unserer christlichen Hoffnung. Und wenn das (noch) nicht möglich ist, zumindest daran zu glauben, dass doch zumindest Gott allem einen Sinn beifügen kann, ist über-lebenswichtig.

Erlöste Erinnerungen

Die christliche Deutung der Lebensrevue vor dem Tod besteht zum einen darin, sich mit dem eigenen Leben zu versöhnen. Wer mit dem Blick auf das eigenen Fehlverhalten nur Scham empfindet, wird so nicht vor Gott treten wollen – geschweige denn in die Gemeinschaft der Heiligen. – Wer noch immer Hass auf seinen Peiniger schürt, trennt sich ebenfalls von der Versöhnung, die Gott uns untereinander und mit ihm anbietet. Dieser Gedanke lässt sich ausweiten auf viele der Regungen, die uns in Beschlag nehmen, wenn wir auf unser Leben schauen.

Selig, wer bereits im Leben gelernt hat, Traumata zu heilen, Vergebung zu erbitten und zu schenken.

Aber es wäre ein nicht wirklich christlicher Gedanke, wenn Gott sozusagen abwartet, bis wir aus eigener Kraft eine geheilte und heilige Haltung zu den Höhen und Tiefen unseres Lebens einnehmen können. Nein, Erlösung machen wir uns nicht selbst, sie wird uns geschenkt: Gott bietet uns an, mit Seinen Augen auf unser Leben zu blicken. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf verborgene Zusammenhänge, unentdeckte Ursachen, Umstände und Folgen. Er lässt uns die Handlungen anderer verstehen und nachvollziehen, so dass Vergebung zu gewähren leichter fällt. Weil wir uns Seiner Vergebung sicher sein können, fällt es uns leichter, auch unsere eigenen Abgründe tiefer zu durchdringen – und dadurch weniger hart über andere zu urteilen.
Alles dies zwängt Gott uns nicht auf, sondern bietet es uns an. In unserem Leben – und vielleicht auch erst am Ort der Reinigung, bevor wir in den Himmel kommen.

Erlösung

Ich denke aber, es gibt noch eine größere Form der Erlösung – und des Erlöst-werdens. Wenn wir nämlich alles im eigenen Leben vertrauensvoll in Gottes Hände legen, egal, was gewesen ist, ob große Sünde oder tiefes Verletztwerden, ob Freude oder Leid. Und wenn wir grenzenlos darauf vertrauen, dass alles bei Gott gut aufgehoben ist, das Leid gewandelt wird und jede Schuld vergeben – und uns Gott einfach hingeben. Ohne Angst, ohne Scham, ohne Hass oder Vergeltungsphantasien. Einfach nur voller Vertrauen. Dann erfüllt sich der Anspruch Jesu: «Gib alles auf, was Du hast – dann folge mir nach. Und du wirst das ewige Leben haben!»
Bis wir soweit sind, können wir uns gut und gerne schon den kleinen Rückblicken widmen. Am Ende des Tages, am Wochenende, am Jahresende, bei jeder Beichte. Und uns darin üben, alles in Gottes Hände zu legen.

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