Wie wir Gebote nun empfinden, hängt einmal von der Frage ab, ob wir die Stärkeren sind, die durch die Gebote eingeschränkt werden, oder ob wir die Schwächeren sind, denen die Gebote Schutz geben; zum anderen aber hängt es aber auch davon ab, inwieweit wir deren Notwendigkeit und deren Sinn erkennen. Ein Stoppschild an einer gefährlichen Kreuzung erscheint uns sinnvoll, weil wir wissen, dass das Anhalten dort uns und andere tatsächlich schützt. Zudem weist ein Stoppschild Ortsunkundige auf eine solche Gefahr hin. Ein rote Ampel aber, die an einer übersichtlichen, menschenleeren Kreuzung steht, empfinden wir als lästig – vor allem, wenn wir es eilig haben. Wir sehen nicht ein, warum wir dort halten müssen.
In südlichen Ländern werden (so sagt man) Verkehrsregeln eher als Empfehlungen interpretiert – man hält sich oft nur daran, wenn es sinnvoll erscheint. In Deutschland neigen wir dazu, die Regeln einzuhalten, egal, ob sie noch sinnvoll sind: Am verkehrsfreien Sonntag (während der Ölkrise in den 70-er Jahren) haben die Fußgänger in Münster beispielsweise immer noch an den roten Ampeln auf Grün gewartet.
Nun ist aber gerade in einer Gesellschaft, in der Vorschriften und Gesetzes ausufernd unübersichtlich werden, der Sinn viele Vorschriften schwer zu erkennen – oder sogar ganz verloren gegangen. Das gilt auch vor allem für die Gebote der Religionen. Wer das Vertrauen in die Religion (oder einer bestimmten Religionsgemeinschaft) verloren hat, wird auch die entsprechenden Gebote nicht mehr halten wollen, weil deren Sinn oft verkannt wird. Wer einer Religion nicht mehr eine echte Lebenskompetenz zutraut, wird auch die Gebote nicht mehr als Hilfe betrachten. Und wer einer Religion nicht mehr Wohlwollen zutraut, wird leicht hinter vielen Geboten gerade das Böswillige vermuten.
Das wird besonders deutlich an den Kirchengeboten, an den Regeln und Vorschriften, die eine Religionsgemeinschaft prägt. Aber auch die Zehn Gebote, die Grundlage der drei großen Religionen (Judentum, Christentum, Islam), werden zwar immer wieder erwähnt – aber nur zum Teil befolgt, am wenigsten noch die ersten drei Gebote, die ausschließlich religiös sind. Wer nicht selbst eine Beziehung zum lebendigen Gott hat, wird sich daran wohl kaum halten. Man vermutet hinter diesen Geboten einen Verlust an Lebensqualität – und an Freiheit.
Das Gegenteil ist der Fall.
«Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, dem Sklavenhaus.» So beginnen die Zehn Gebote. Es soll deutlich gemacht werden: Die Gebote stehen im Gegensatz zur Sklaverei, mit den zehn Geboten beginnt für euch die Freiheit, weil ihr mit ihnen das tut, was für euch gut ist.
Genau genommen steht nämlich im Urtext nicht: „Du sollst!“, sondern: „Du wirst!“ – Derjenige, der von Gott befreit wurde und ihn als Gott erkannt hat, wird die Gebote halten, weil er es sowieso will. Die Gebote sind nicht von Gott gegeben, damit Gott ein paar Regeln hat, nach denen er den Menschen beurteilen kann, sondern sie ergeben sich automatisch aus dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Wer in die Nähe Gottes kommt, wird sich so verhalten, wie es in den Geboten geschildert wird.
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