»Ohne Religion gibt es keine Moral«
Es ist immer noch ein weitverbreites Vorurteil: »Religionen denken, sie seien die einzige Quelle für Moral und moralisches Verhalten.« — Nun, manche Vertreter von Religionen oder Konfessionen denken dies tatsächlich. Und manche Politiker, die gar nicht an Gott glauben, sehen darin sogar einen unverzichtbaren Nutzen der Religion (z. B. Gregor Gysi). So gesehen denke manche vielleicht sogar, dass es ein Kompliment für die Religionen sei, wenn man ihnen zugesteht, dass sie «die letzten Werte-vermittelnden Institutionen unserer Gesellschaft» wären. Aber das stimmt nicht.
Dass alle Religionen auch Gesetze und Vorschriften haben, ist klar. Manche Anhänger der Weltreligionen wie Judentum, Christentum und Islam denken jedoch, alle moralischen Vorschriften erhielten ihre Verbindlichkeit erst durch die Anordnung ihrer höchsten Autorität; deshalb wurden sie dann in heiligen Büchern aufgeschrieben (in der Tora, der Bibel und dem Koran).
So gesehen wäre nur das gut oder böse, was von einer Autorität als solches bezeichnet wird; diese Autorität kann ein Gott sein oder ein Staat, eine Behörde oder ein Guru. Letztlich müsse sich jeder selbst eine Autorität seines Geschmacks wählen und dann deren Festlegungen folgen: Eine unparteiische Abwägung der Autoritäten oder der Grundsätze könne es nicht geben — weil es ja keine übergeordnete Moral gebe. Eine solche Auffassung wird Positivismus genannt (von lat. ponere: setzen, stellen, legen). Das ist ganz und gar nicht katholische Überzeugung!
Denkfehler: Verwechslung von Ursache und Wirkung
Die Religion predigt eine Moral, erschafft sie aber nicht. – Selbstverständlich predigt die Kirche auch moralische Verhaltensweisen (wie z.B. das Fastengebot), die nur für die Anhänger der jeweiligen Religion gelten. Aber das heißt nicht, dass alles, was eine Religion predigt, ihre eigene Erfindung ist. – Die christliche Religion verurteilt auch Mord, Vergewaltigung und Terrorismus. Muss man daraus folgern, dass sich Nicht-Katholiken daran nicht halten müssen?
Das Naturrecht
Die katholische Kirche ist seit jeher Verfechterin des Naturrechtes. — Einen grundsätzlichen Positivismus (d.h. die Vermutung, Gut und Böse werden nur durch Festlegung definiert) hat die katholische Kirche seit jeher abgelehnt. Sie steht in der langen Tradition der Naturrechtsphilosophen, die bereits auf die Ionier zurückgehen, später namentlich auf Aristoteles und Platon: Demnach kann kein Herrscher, kein Staat (und auch kein Gott) das ihm vorgegebene Recht willkürlich setzen. Moral entsteht nicht, weil Gesetze erlassen werden; vielmehr haben sich die Gesetze an dem zu orientieren, was die Erkenntnis der Moral dem Staat vorgibt.
Das Buch von Frans de Waal »Moral ist älter als Religion« ist zwar kirchenkritisch gemeint (obwohl es sehr viel sachlicher und positiver ist als die Bücher von Richard Dawkins), seine These können wir aber sofort unterschreiben: die Moral ist der Religion voraus und muss es immer bleiben!
Wie schon eingangs erwähnt, gibt es Anhänger unter den Religionen und Konfessionen, die der Behauptung »Ja, Gott macht die Moral. Wer sind wir, daran zu zweifeln?« sofort zustimmen würden. Wir kennen eine solche Haltung aus dem Islam und einigen evangelikalen Bewegungen: Gottes Anordnung ersetzt das oft mühsame und naturrechtliche Argumentieren, da Gottes Wort unfehlbar, des Menschen Erkennen aber immer vorläufig ist. Die katholische Moraltheologie prüft dagegen Bibelstellen, Privatoffenbarungen und überlieferte Rechtstraditionen mit der praktischen Vernunft.
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