Der „Engel der neuen Kraft“
Das Kreuz hat eine ungewöhnliche Form: Am oberen Ende ein Rechteck, in ihm ein Engel mit einem Trinkbecher – der „Engel der neuen Kraft“, eine Anspielung an die Stelle aus der Leidensgeschichte bei Lukas, in der es heißt:
„Da kam ein Engel vom Himmel und gab ihm neue Kraft.“
(Lk 22, 43)
Maria und Johannes:
Wie in vielen Kreuzdarstellungen stehen unter dem Kreuz Maria, die Mutter Jesu (links), und „der Jünger, den Jesus liebte“, den die Überlieferung mit dem Evangelisten Johannes verbindet; Symbol dafür ist das Buch in der Hand.
Ungewöhnlich ist die Platzierung der beiden: nicht getrennt vom Kreuz sondern, im Maßstab stark verkleinert, wie an das Kreuz angehängt.
Es fällt auf, dass die Gestalt der Maria behutsam mit einer Hand Jesus berührt, während Johannes zwar ebenfalls zu Jesus blickt, ihn aber nicht berührt, als wolle er Abstand halten.
So führen diese beiden Gestalten vielschichtig vor Augen, was zum Wesen des Menschen und zum Christsein gehört:
Maria verkörpert die sinnliche Wahrnehmung, das Fühlen des Herzens; Johannes wiederum steht für den Verstand, das Denken und die kritische Vernunft, auch dies symbolisiert durch das Buch in seiner Hand.
Die beiden Gestalten lassen sich aber auch als Symbolfiguren der Suche nach Gott und des Ringens zwischen Glauben und Zweifeln deuten. Der eine glaubt und fühlt sich in Kontakt mit Jesus, der andere hält skeptisch Distanz, zweifelt und hat Fragen – Jesus ist für beide gestorben, beide haben ihren Platz unter dem Kreuz, beide sind durch seinen Tod erlöst.
In einer dritten Deutung kann man Maria und Johannes als Verkörperungen unterschiedlicher Glaubenserfahrungen des Christen in der Beziehung zu Jesus betrachten: Sie stehen dann für Zeiten, in denen man die Nähe Jesu spürt und für Zeiten, in denen einem Jesus fremd ist und in denen man sich wie getrennt von ihm fühlt – beide Erfahrungen gehören zu einem Leben aus dem Glauben.
Die Farben:
Braun: Jesus, Maria und Johannes sind braun gezeichnet. Jesus scheint fast mit dem rotbraunen Holz des Kreuzes zu verschmelzen.
Braun – Farbe der Erde, des Bodens, aus dem alles Fruchtbare hervorgeht, aber auch der Vergänglichkeit, der Endlichkeit und des Todes.
Rot: Die dominierende Farbe dieses Kreuzes. Rot – Farbe des Lebens, des Blutes; Farbe der Liebe, aber auch des Leidens und des Mitleidens. Rot umschließt das ganze Kreuz, auch Maria und Johannes unter dem Kreuz:
Wir Menschen können uns dem Leid und dem Schmerz nicht entziehen, genausowenig wie dies Jesus tat.
Jesus ist der erste wahrhaft erlöste Mensch: Er leidet und stirbt am Kreuz als ein Mensch, der mit uns mitfühlt und mitleidet – und uns als Gottes Sohn zugleich teilhaben lässt an seiner Auferstehung, darum die Farbe Gold.
Gold: Gold – Farbe der Freude und des Festes; Farbe der Gegenwart Gottes und der Heiligkeit, Farbe der Auferstehung.
Dass um die Köpfe der Heiligen ein goldener Heiligenschein leuchtet, ist uns vertraut. In dieser Kreuzdarstellung umgibt auch das Kreuz ein goldener Streifen. Golden leuchtet es auch durch die Wundmale Jesu hindurch. Das lässt an die Worte des Priesters in der Osternacht denken, die er beim Bezeichnen der Osterkerze mit dem Kreuz spricht: „Durch deine Wunden, die leuchten in Herrlichkeit, behüte uns und bewahre uns Christus, der Herr.“
Die Wundmale Jesu machen es deutlich: Dieses Gold leuchtet hinter dem Kreuz hervor – die Auferstehung zur endgültigen Gemeinschaft mit Gott ist der Hintergrund vor dem Sterben Jesu am Kreuz und der tragende Grund aller christlichen Existenz.
Der Mensch ist erlöst. Diese Erlösung gilt allen Menschen, alle können teilhaben an der Auferstehung.
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