Eine geistliche Kunstbetrachtung
Vorbemerkung
Wer nach Burgund in Frankreich kommt, sollte auf keinen Fall versäumen, Vézelay zu besuchen. Dieses Städtchen auf einer Anhöhe hat schon seinen eigenen Reiz. Die meisten Touristen und Pilger kommen aber wegen der gewaltigen Basilika der hl. Maria Magdalena. Zu ihren Reliquien sind im frühen Mittelalter Scharen von Pilgern gekommen, um an diesem Ort die Heilige um ihre Fürsprache anzurufen und ihre Sünden zu bereuen. Im 12. Jahrhundert, dem Höhepunkt der Wallfahrten, entstand die jetzige Basilika mit ihrem unvergleichlichem Raum, der eine ganze Theologie des Lichtes entfaltet.
Aber nicht der Kirche als solcher wenden wir uns zu, sondern erst einmal nur einem Detail, das man in der Kirche erst einmal suchen muss. Denn die Basilika ist geschmückt mit zahlreichen zum Teil rätselhaften Kapitellen am oberen Ende der Säulen, die das Gewölbe tragen. Übrigens war der berühmte Heilige Bernhard von Clairvaux, der hier im Jahr 1190 den 2. Kreuzzug ausrief, von den vielen Kapitellen mit den figürlichen Darstellungen alles andere als begeistert. Er lehnte in seinen Klöstern und Kirchen solche Darstellungen ab. Stattdessen entwickelten die Künstler vielfältige florale und ornamentale Muster, die z.B. heute noch die Fenster der früheren Zisterzienserabtei in Altenberg bei Köln schmücken.
Ein Tipp: Wer das Kapitell in der Basilika sucht, wird es auf der rechten Seite finden, an der vierten Säule, dem Ausgang zugewandt.
Noch ein Tipp: Wer etwas Zeit hat, geht links vom Platz der Basilika an einer Mauer vorbei einen uralten Weg hinunter (ca. 1 km) zur Kapelle La Cordelle. Man kommt an einen Platz mit einem großen Kreuz.Das ist die Stelle, wo der hl. Bernhard den Kreuzzug gepredigt hat. Zur Kapelle selbst gehört ein kleiner Konvent. Dieser Ort und der Weg dahin lohnen auf jeden Fall, sie bieten eine Reise in die Geschichte und die Erfahrung eines magischen Ortes.
Das Kapitell von der mystischen Mühle
Wer sind diese beiden Männer, die an ein und derselben Mühle arbeiten? Beide sehen sich recht ähnlich. Während der eine das Korn in die Mühle schüttet, fängt der andere das fertige Mehl auf. Die meisten, die das Bild zu deuten versuchen, erkennen in der linken Figur, die das Korn einfüllt, Mose, und in der rechten Figur Paulus, den Völkerapostel.
Das Kreuz inmitten des Mühlrades hilft uns erkennen, was hier geschieht: In unsichtbarer Weise ist Christus hier am Werk. Sein Kreuz macht aus dem Gesetz des Alten Testamentes, das Moses am Sinai erhalten hat, das neue Gesetz und die neue Feier des Glaubens: Christus wird für die Menschen zum wahren Brot, das lebt und Leben spendet.
Mose, der große Prophet, hat den Alten Bund bezeugt; Paulus verkündet als Völkermissionar Christus als den Heiland und Erlöser aller Menschen.
Alter und Neuer Bund bilden eine Einheit durch die Hingabe, in der Christus sich als Opfer für das Heil der Welt verschenkt.
In dieser Skulptur, die Vergangenheit und Gegenwart in dichtester Form darstellt, steckt eine tiefe Symbolik. Das Bild zeigt uns, wie der Weg vom Korn zum Brot geschieht: durch das Mahlen, durch das Zerreiben.Und dieser Weg vom Korn zum Brot ist immer Gegenwart in unserer Mitte. Wer Christus finden will, wer ihn im Brot des Lebens empfängt, geht in das Lebensgeheimnis ein, das vom Leiden und Tod in die Auferstehung und Herrlichkeit führt.
Weitere geistliche Kunstbetrachtungen
- Das «Labyrinth» in der Kathedrale Notre Dame in Chartres
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- Die mystische Mühle – Kapitell in der Basilika von Vézelay
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