um 1599 oder 1600, heute in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom
Wer als Tourist oder Pilger in Rom weilt, wird auch die Piazza Navona besuchen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Man kann den berühmten Vierströmebrunnen von Bernini bestaunen oder sich von einem der fliegenden Künstler porträtieren lassen. Man kann ein Eis essen oder einen Espresso trinken und, wenn man als ahnungsloser Tourist erkannt wurde, einen stolzen Preis dafür bezahlen. (Ein sicheres Erkennungszeichen für den ahnungslosen Touristen ist, sich in einer Bar einfach auf einen freien Platz zu setzen. In diesem Moment bist du schon dein Geld los.)
Eine andere Möglichkeit, die hier empfohlen wird, ist der Besuch der Kirche San Luigi deiFrancesi ganz in der Nähe. Hier hängt eines der berühmtesten Gemälde der frühen Barockzeit des genialen Künstlers Caravaggio.
Rechts im Bild sieht man Jesus, wie er mit einer fordernden Geste, die von Michelangelos Adam inspiriert zu sein scheint, auf den Zöllner Levi (später der hl. Matthäus) deutet. Petrus, der erst später in das Bild eingefügt wurde, ahmt Jesu Gebärde schwerfällig nach. Er ist so etwas wie der Vermittler zwischen den Menschen und Jesus. Und was tut Levi? Er zeigt fragend auf sich selbst, während zwei Zöllner links von ihm so sehr in ihre Tätigkeit vertieft sind, dass sie Jesus nicht bemerken. Dies wird oft symbolisch gedeutet:sie sind diejenigen, die die von Jesus angebotene Wiederauferstehung ablehnen. Die Zöllner und Levi sind zeitgemäß gekleidet. Sie sind ja in weltliche Geschäfte verwickelt. Jesus und Petrus hingegen tragen zeitlose Gewänder. Christus ist schon im Begriff zu gehen, und tatsächlich wird ihm Matthäus im nächsten Augenblick in ein anderes Leben folgen. Der Junge mit Federhut stellt einen Freund von Caravaggio dar, es ist Mario Minniti. Das Licht wurde sorgfältig manipuliert. Das ist typisch für den Künstler Caravaggio, der mit dem Licht spielt und Licht und Schatten effektvoll einsetzt.Es gibt drei Lichtquellen: das obere Licht beleuchtet Matthäus. Das Fenster verteilt ein diffuses Licht. Und die dritte Lichtquelle? Sie ist mysteriöser Herkunft, denn Petrus verursacht keinen Schatten. Was will Caravaggio damit sagen? Er will sich von der bisherigen Tradition lösen und deuten, was sich tatsächlichin dieser Situation zugetragen hat. Das obere Licht kommt von rechts, wodurch die Wirkung erzielt wird, dass das Licht des wirklichen Altarfensters der Kapelle die Szene beleuchtet. Das Bild hängt also auf der linken Seite der Kapelle.
Eine ganz große Bedeutung kommt der Hand des berufenden Jesus zu. Für den Betrachter ist offensichtlich, dass hier auf ein früheres Kunstwerk Bezug genommen wird, auf die berühmte Erschaffung des Adam von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle. Dort berühren sich die Finger Gottes und die des ersten Menschen beinahe, während hier noch ein großer Abstand da ist. Aber der Vorgang ist der gleiche. Die Berufung bedeutet, dass der Mensch neu geschaffen wird. Aus dem Zöllner Levi wird der Evangelist und Apostel Matthäus, ein neuer Mensch.
Einen weiteren wichtigen Aspekt hat Caravaggio angedeutet, indem er die zwei Sprossen des Fensters das Kreuz bilden läßt. Das bedeutet: Berufung durch Jesus bedeutet immer auch Berufung zum Kreuz, zum Mitgehen des Leidensweges. Zugleich ist das Kreuz eine Quelle des Lichts und der Ausgang neuen Lebens.
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